Voraussetzung zu effektiven Gehörbildungsübungen „allein“ sind Konzentrationsfähigkeit, äußere Ruhe und genügend Zeit.
Als Hilfsmittel werden die eigene Stimme und ein Instrument eingesetzt.
Ideal ist ein Tasteninstrument, mit dem alle hier vorgestellten Übungen gemacht werden können.
Streich- und Blasinstrumente eignen sich weniger für akkordische Übungen.
Bei Blasinstrumenten besteht die Schwierigkeit gleichzeitig zu gespielten Tönen zu singen.
Die folgenden Übungen gehen immer von der Benutzung eines Tasteninstruments aus.
Zunächst viel Zeit lassen (lange den gesungenen und gespielten Tönen zuhören), dann nach und nach das Tempo steigern, um die Töne möglichst schnell und sicher „abnehmen“ zu können.
[1-1] einzelne Töne innerhalb des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
a) ⇒ nachsingen, während der Ton noch klingt, dabei auf saubere Intonation achten (Schwebungen!)
b) ⇒ nachsingen, nachdem der Ton verklungen ist; dabei durchaus längere Zeit warten und versuchen, den Ton im Gedächtnis zu behalten
⇒ gesungenen Ton mit Instrument vergleichen
Bei dieser Gelegenheit lässt sich der Tonumfang (Ambitus) der eigenen Stimme feststellen. Dazu immer entspannt auf gut klingende Vokale singen (besonders gut: ü). Der Ambitus lässt sich durch Stimmbildungsübungen unter Umständen erheblich erweitern.
Während des Nachsingens an den betreffenden Tonnamen und das Notenbild denken!
[1-2] einzelne Töne singen
⇒ Vorstellung über Lage des Tons entwickeln
⇒ gesungenen Ton mit Instrument vergleichen
[1-3] einzelne Töne außerhalb des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
⇒ oktaviert in der eigenen Stimmlage nachsingen
Während des Nachsingens an den Tonnamen, das Notenbild und den Unterschied der Oktavbereiche denken!
Während des Singens von Intervallen an die Namen der beiden Töne, die Bezeichnung des Intervalls und das Notenbild denken.
[2-1] beliebige Intervalle spielen, deren beide Töne im Tonumfang der eigenen Stimme liegen
⇒ nacheinander beide Töne nachsingen, wobei es keine Rolle spielt, ob man erst den unteren oder den oberen Ton abnimmt (beides sollte im Wechsel geschehen).
[2-2] gleich bleibenden Ton etwa in der Mitte des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
⇒ Ton abnehmen
⇒ beliebiges Intervall auf- oder abwärts singen
⇒ den erreichten Ton mit Instrument vergleichen
[2-3] verschiedene Töne innerhalb des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
⇒ Ton abnehmen
⇒ beliebiges Intervall auf- oder abwärts singen
⇒ den erreichten Ton mit Instrument vergleichen
Wem es hilfreich erscheint, mag sich, um Intervalle hörend zu erkennen oder zu singen, Assoziationen zu persönlich bekannten und bevorzugten Musikstücken bilden. Kritiklos Tabellen von Liedanfängen für alle Intervalle zu übernehmen und auswendig zu lernen ist weniger sinnvoll, da einerseits nicht zu jedem Intervall ein Lied gefunden werden kann, das mit diesem beginnt (große Septime!), andererseits oft weniger bekannte Lieder auftauchen, die sich daher oft nur schwer einprägen. Auch sollte Instrumentalmusik einbezogen werden, besonders die Literatur, die man selber spielt. Darüber hinaus braucht ohnehin nicht zu jedem Intervall ein „Muster“ gefunden zu werden, sondern nur für diejenigen, die nicht spontan gehört oder gesungen werden können.
Eine solche „Assoziations-Tabelle“ könnte z.B. so aussehen:
Intervalle aufwärts:
kleine Sekunde |
Ludwig van Beethoven: 9. Sinfonie, 4. Satz, „Freude, schöner...“ |
große Sekunde |
Sergej Rachmaninov: 2. Klavierkonzert, 1.Satz, 1.Thema |
kleine Terz |
Johannes Brahms: 2. Sinfonie, 1. Satz, 1.Thema |
große Terz |
Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ |
reine Quarte |
Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ |
Tritonus |
Leonard Bernstein: „West Side Story“, „Maria“ |
reine Quinte |
Richard Strauss: „Also sprach Zarathustra“, Beginn |
kleine Sexte |
Richard Wagner: „Tristan und Isolde“, Vorspiel, Beginn |
große Sexte |
Richard Wagner: „Die Walküre“, Feuerzauber, 2. Thema |
kleine Septime |
Leonard Bernstein: „West Side Story“, „Somewhere“ |
kleine None |
Anton Bruckner: 9. Sinfonie, 3.Satz, Beginn |
Intervalle abwärts:
kleine Sekunde |
Ludwig van Beethoven: Albumblatt „Für Elise“ |
große Sekunde |
Johannes Brahms: 1. Sinfonie, 1. Satz, Beginn |
kleine Terz |
Petr Tschaikovskij: 1.Klavierkonzert, 1. Satz, 1.Thema |
große Terz |
Ludwig van Beethoven: 5. Sinfonie. 1. Satz, Beginn |
reine Quarte |
Richard Wagner: „Die Meistersinger...“, Ouvertüre, Beginn |
verminderte Quinte |
Richard Strauss: „Also sprach Zarathustra“, 6. Thema |
reine Quinte |
Anton Bruckner: 4. Sinfonie. 1. Satz, 1.Thema |
kleine Sexte |
Johann Sebastian Bach: „Italienisches Konzert“, 1. Satz |
große Sexte |
Lied „Winde weh’n“ |
kleine Septime |
George Gershwin: „An American in Paris“, 1. Thema |
Es muss berücksichtigt werden, dass die Intervalle dieser Beispiele in einem bestimmten tonalen Zusammenhang stehen, also jeweils einen speziellen Fall darstellen. Alle Intervalle können jedoch selbstverständlich auf allen Stufen einer Tonleiter erscheinen und haben dann mitunter eine andere Empfindungsqualität.
Intervalle, für die sich ein Literaturbeispiel nur schwer finden lässt (z.B. große Septime), können von anderen Intervallen, die womöglich leichter zu treffen sind, abgeleitet werden: der Tritonus (bzw. verminderte Quinte) ist einen Halbton kleiner als die reine Quinte (bzw. einen Halbton größer als die reine Quarte); die große Septime einen Halbton kleiner als die Oktave.
Komplementärintervalle (vor allem: Sekunden - Septimen; Terzen - Sexten) und Intervalle mit ähnlichem Sonanzgrad (die jeweils kleine und große Form eines Intervalls) werden leicht verwechselt.
Bei der Bestimmung der Intervalle sollte man daher gleichermaßen
Sonanzgrad: konsonant - neutral - dissonant
Distanz der beiden Intervalltöne: eng- weit
Strebetendenz dissonanter Intervalle nach Auflösung in konsonante Intervalle
beachten.
[2-4] Ton vorgeben
⇒ nicht singend abnehmen, sondern in der Vorstellung festhalten
⇒ zweiten Intervallton eines beliebigen Intervalls auf- oder abwärts singen
⇒ Kontrolle am Instrument
[2-5] Ton vorgeben
⇒ nicht singend abnehmen, sondern in der Vorstellung festhalten
⇒ zweiten Intervallton eines beliebigen Intervalls auf- oder abwärts ebenfalls nur vorstellen
⇒ Kontrolle am Instrument
[2-6] Ton vorgeben
⇒ beliebiges Intervall, das diesen Ton als oberen oder unteren Ton enthält, simultan vorstellen
⇒ Kontrolle am Instrument
[2-7] Intervall zufällig spielen, indem ein Finger jeder Hand willkürlich (am besten mit geschlossenen Augen) eine Taste anschlägt
⇒ Intervall bestimmen (Töne innerlich singend vorstellen)
⇒ Intervall auf- und abwärts singen
⇒ durch Blick auf die Tasten kontrollieren
Wenn das Hören simultaner Intervalle schwerer fällt, können die beiden Töne auch nacheinander gespielt werden. Sukzessive Intervalle aufwärts werden meist besser erkannt.
[3-1] beliebige Skala (langsam) spielen (mit dem Grundton beginnend) auf- und abwärts
⇒ vor jedem neuen Ton diesen vorstellen (Schärfung der Vorstellungskraft für kleine und große [oder übermäßige!] Tonleiterschritte)
[3-2] beliebige Skala singen (mit dem Grundton beginnend) auf- und abwärts
⇒ Kontrolle am Instrument direkt nach jedem Ton oder
⇒ Kontrolle am Instrument erst nach der kompletten Skala
[3-3] abwechselnd die Töne einer beliebigen Skala spielen und singen
Entscheidend für diese Übungen ist es, die besondere Qualität der Tonleiterstufen (Grundton, Leitton [oder fehlender Leitton], Dur-/Mollterz, Dominante...) zu erfassen und eine Empfindung dafür zu entwickeln. Während des Singens an die Stufe denken und am besten die Stufenbezeichnung (Nummer oder Name [Solmisationssilben]) singen (nicht Tonnamen!).
[3-4] Skala nicht komplett singen
⇒ bei einer beliebigen Stufe stehen bleiben und von dieser als neuem Grundton eine Skala singen (auch mit wechselnder Richtung)
[3-5] wie [3-4]
⇒ jedoch erreichte Stufe als beliebige andere Stufe einer neuen Skala (nicht Grundton!) deuten und in dieser weiter singen (auch mit wechselnder Richtung)
[3-6] Skala singen
⇒ eine Stufe alterieren (kleine Sekunde vergrößern; große Sekunde verkleinern oder übermäßig)
Diese Übung dient dazu, die Qualität von Leittönen insgesamt und künstlichen (durch Alteration entstandenen) insbesondere zu erspüren.
Zum Erkennen von Skalen ist es oftmals nicht notwendig diese komplett zu hören. Es empfiehlt sich alle siebenstufigen (heptatonischen) Skalen von der Dur-Skala oder der natürlichem Moll-Skala abzuleiten und beim Hören auf die Unterschiede zu achten. Dur- und natürliche Moll-Skala sollten ohne Probleme spontan erkannt werden können.
Kennzeichen der durähnlichen Skalen:
ein veränderter Ton: |
4. Stufe erhöht |
⇒ lydisch („lydische Quarte“) |
ohne Leitton |
⇒ mixolydisch („mixolydische Septime“) |
|
zwei veränderte Töne: |
zwei übermäßige Schritte |
⇒ Zigeuner-Dur |
Kennzeichen der mollähnlichen Skalen:
ein veränderter Ton: |
2.Stufe erniedrigt |
⇒ phrygisch („phrygische Sekunde“) |
6.Stufe erhöht |
⇒ dorisch („dorische Sexte“) |
|
7.Stufe erhöht |
⇒ harmonisches Moll |
|
zwei veränderte Töne: |
6. und 7.Stufe erhöht |
⇒ melodisches Moll |
zwei übermäßige Schritte |
⇒ Zigeuner-Moll |
heptatonische Skalen erkennen („Hör-Algorithmus“):
1. mit Grundton beginnend aufwärts:
Beginn mit kleiner Sekunde
⇒ mollähnlich |
(ohne Leitton) |
⇒ phrygisch |
|
⇒ durähnlich |
(zwei übermäßige Schritte) |
(mit Leitton) |
⇒ Zigeuner-Dur |
Beginn mit großer Sekunde
⇒ mollähnlich |
⇒ ein übermäßiger Schritt |
(mit Leitton) |
⇒ harmonisches Moll |
⇒ zwei übermäßige Schritte |
(mit Leitton) |
⇒ Zigeuner-Moll |
|
⇒ 6.Stufe tief |
(ohne Leitton) |
⇒ natürliches Moll |
|
⇒ 6.Stufe hoch |
⇒ mit Leitton |
⇒ melodisches Moll |
|
⇒ ohne Leitton |
⇒ dorisch |
||
⇒ durähnlich |
⇒ 4. Stufe hoch |
(mit Leitton) |
⇒ lydisch |
⇒ 4. Stufe tief |
⇒ mit Leitton |
⇒ Dur |
|
⇒ ohne Leitton |
⇒ mixolydisch |
2. mit Grundton beginnend abwärts:
mit Leitton
⇒ folgt übermäßiger Schritt |
⇒ 4.Stufe hoch |
(+ 2.übermäßiger Schritt) |
⇒ Zigeuner-Moll |
⇒ 4.Stufe tief |
⇒ durähnlich (+ 2.übermäßiger Schritt) |
⇒ Zigeuner-Dur |
|
⇒ mollähnlich |
⇒ harmonisches Moll |
||
⇒ folgt Ganzton |
⇒ 4.Stufe hoch (durähnlich) |
⇒ lydisch |
|
⇒ 4.Stufe tief |
⇒ durähnlich |
⇒ Dur |
|
(⇒ mollähnlich |
⇒ melodisches Moll)* |
ohne Leitton
⇒ folgt Halbton |
⇒ durähnlich |
⇒ mixolydisch |
⇒ mollähnlich |
⇒ dorisch |
|
⇒ folgt Ganzton |
⇒ 2.Stufe hoch (mollähnlich) |
⇒ natürliches Moll |
⇒ 2.Stufe tief (mollähnlich) |
⇒ phrygisch |
(in Klammern gesetzte Merkmale dienen der Kontrolle, sind zum Erkennen aber nicht notwendig)
* Die melodische Mollskala ist in vollständiger Form äußerst selten und eigentlich widersinnig, da die erhöhte 6. und 7. Stufe nur bei Aufwärtsbewegung zum Grundton hin einen Sinn macht.
Während des Singens von Akkordtönen an die Namen der Töne, die Bedeutung innerhalb des Akkordes und das Notenbild denken.
Die Übungen [4-1] bis [4-4] trainieren das „Abnehmen“ von Akkordtönen:
[4-1] beliebige Akkorde spielen, deren Töne im Tonumfang der eigenen Stimme liegen
⇒ nacheinander Basston und höchsten Ton abnehmen und nachsingen.
[4-2] beliebige Akkorde spielen, deren Töne im Tonumfang der eigenen Stimme liegen
⇒ nacheinander alle Akkordtöne abnehmen und nachsingen.
[4-3] gleich bleibenden Ton im unteren Bereich des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
⇒ Ton abnehmen
⇒ beliebige wechselnde Akkorde auf- und abwärts singen
⇒ die gesungenen Töne mit Instrument vergleichen
[4-4] verschiedene Töne innerhalb des Tonumfangs der eigenen Stimme vorgeben
⇒ Ton abnehmen
⇒ immer den gleichen Akkordtyp auf- oder abwärts singen
⇒ die gesungenen Töne mit Instrument vergleichen
Die Übung [4-5] trainiert das Ergänzen von Akkorden:
[4-5] zwei Töne eines Akkordes vorgeben
⇒ durch einen oder zwei Töne zu einem beliebigen Drei- oder Vierklang singend ergänzen
⇒ Kontrolle am Instrument
Die Übungen [4-6] bis [4-8] trainieren das „innere Hören“ von Akkorden und Akkordtönen:
[4-6] Ton vorgeben
⇒ nicht singend abnehmen, sondern in der Vorstellung festhalten
⇒ die übrigen Töne eines beliebigen Akkordes auf- oder abwärts singen
⇒ Kontrolle am Instrument
[4-7] Ton vorgeben
⇒ nicht singend abnehmen, sondern in der Vorstellung festhalten
⇒ die übrigen Töne eines beliebigen Akkordes auf- oder abwärts ebenfalls nur vorstellen
⇒ Kontrolle am Instrument
[4-8] Ton vorgeben
⇒ beliebigen Akkord, der diesen Ton als obersten oder untersten Ton enthält, simultan vorstellen
⇒ Kontrolle am Instrument
Die Übungen [4-9] bis [4-12] trainieren den Umgang mit Akkordfolgen:
[4-9] Ton vorgeben
⇒ beliebigen Akkord, der diesen Ton als obersten oder untersten Ton enthält, auf- oder abwärts singen
⇒ den erreichten Ton als neuen Ausgangspunkt wählen und einen anderen Akkord auf- oder abwärts singen
⇒ diese Schritte beliebig oft wiederholen
⇒ Kontrolle des zuletzt erreichten Tons am Instrument
[4-10] Basstöne einer Akkordfolge spielen
⇒ die übrigen Akkordtöne singend ergänzen
⇒ Kontrolle am Instrument
Etwas ungewöhnlich, aber effektiv: Ausführung eines Generalbasses mit der Stimme!
[4-11] Akkorde einer Akkordfolge spielen
⇒ die Basstöne singend ergänzen
⇒ Kontrolle am Instrument
Diese Übung verdeutlicht die fundamentale Bedeutung der Basstöne für die harmonische Funktion von Akkorden.
[4-12] Akkorde einer Akkordfolge spielen unter Auslassung einer der Mittelstimmen
⇒ die ausgelassene Mittelstimmen singen
⇒ Kontrolle am Instrument
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