5. Stimmführung

5.1. Prinzip

Die Verbindung von Akkorden zu Harmoniefolgen kommt zustande durch das Weiterführen der einzelnen am Satz beteiligten Stimmen von den Tönen eines Akkordes zu den Tönen des Folgeakkordes. Dabei gilt es sowohl den Verlauf jeder einzelnen Stimme, als auch das Bewegungsverhältnis der Stimmen zueinander zu beachten. Dies in seiner Gesamtheit wird als Stimmführung bezeichnet.

5.2. Führung der einzelnen Stimme

1 Für den Verlauf jeder Stimme ist lineare Führung (mit Rücksicht auf die möglichst leichte und bequeme Ausführbarkeit) anzustreben. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Ausgewogenheit zwischen Schritten gegenüber Sprüngen besteht: in der Regel mehr Schritte als Sprünge.

Diatonische Schritte sind kleine und große Sekunden (meist als stufenweises Fortschreiten innerhalb der Tonleiter).

Chromatische Schritte sind übermäßige und verminderte Primen, also die chromatische Veränderung eines Tons.

Sprünge sind alle melodischen Intervalle größer als die Sekunde.

Johann Philipp Kirnberger bemerkt, dass die „kleinen Intervalle, als der Secunde Terz, die Melodie fließender machen, als Sprünge in die Sexte, Septime, Oktave etc. Sie müssen daher öfter als die letzen vorkommen, und dies nur da, wo man der Melodie einen Accent oder Hauptton geben will, oder wo man des Ausdrucks wegen sich von dem Fließenden des Gesanges entfernet.“ (Die Kunst des reinen Satzes, Berlin-Königsberg, 1776-79)

2 Bei allen Stimmen (nicht nur beim Sopran) ist auf möglichst melodische, sangbare Führung zu achten. Die Bewegungsintensität ist für die Außenstimmen am größten; die Mittelstimmen bewegen sich weniger stark.

3 Es sollten nach Möglichkeit sangliche Intervalle verwendet werden.

Harmonische Intervalle (zwei Töne erklingen gleichzeitig) werden in Konsonanzen und Dissonanzen eingeteilt:

Melodische Intervalle (zwei Töne erklingen nacheinander) werden nach ihrer Sanglichkeit beurteilt.

Als sanglich gelten Prime (Tonwiederholung, Ligatur = gemeinsamer Ton zweier Akkorde), kleine und große Sekunde, kleine und große Terz, (reine) Quarte, (reine) Quinte, kleine und große Sexte und Oktave.

Bsp. 5.2.-1: sangliche Intervalle

sangliche Intervalle


Sexten abwärts und große Sexten aufwärts wurden lange Zeit vermieden. Je größer die Sprünge werden, desto schwerer sind sie zu intonieren.

Ein besonderer Fall der Tonwiederholung ist die enharmonische Ligatur. Dabei handelt es sich um eine verminderte Sekunde, also ein enharmonisches Tonpaar.

Bsp. 5.2.-2: (a) Ligatur – (b) enharmonische Ligatur

(a) Ligatur – (b) enharmonische Ligatur


Als bedingt sanglich gelten kleine Septime aufwärts (wenn ein Sekundschritt abwärts folgt) und einige chromatische Intervalle, denen ein kleiner Sekundschritt in entgegen gesetzte Richtung folgen muss: übermäßige bzw. verminderte Prime (die chromatische Veränderung eines Tones = Alteration), verminderte Quinte, verminderte Septime, verminderte Terz abwärts und (selten) verminderte Quarte.

Bsp. 5.2.-3: bedingt sangliche Intervalle

bedingt sangliche Intervalle


Als unsanglich gelten Tritonus, kleine Septime abwärts, große Septime, Intervalle größer als eine Oktave und alle übrigen chromatischen Intervalle.

Bsp. 5.2.-4: unsangliche Intervalle

unsangliche Intervalle


Ein bedingt sangliches oder unsangliches Intervall wird auch Hiatus (= lat. Klaffen, Öffnung, Schlund; sprachlich das Zusammentreffen zweier Vokale) genannt (vor allem verminderte Sprünge, insbesondere verminderte Terz und übermäßige Sekunde).

4 Für die melodische Führung einer Stimme gilt: zwei Intervalle in die gleiche Richtung, die in der Summe eine Dissonanz bilden, sollten vermieden werden.

z.B. ergeben eine Terz und eine Quinte in der gleichen Richtung eine Septime zwischen dem ersten und dritten Ton.

In der Bass-Stimme wird besonders häufig dieser Fall zu beobachten sein. Für sie gilt insbesondere: zwei Quinten oder Quarten in die gleiche Richtung sind zu vermeiden, weil die dies in der Summe eine Dissonanz bildet (None bzw. Septime). Ausnahmen sind möglich, vor allem bei langsamerem Tempo.

Bsp. 5.2.-5: Vermeiden unmelodischer Führung der Bass-Stimme

Vermeiden unmelodischer Führung der Bass-Stimme


Die Einteilung der Intervalle nach „Sanglichkeit“ gilt im Wesentlichen für Vokalmusik. In der Instrumentalmusik wäre eine analoge Einteilung nach „Spielbarkeit“ möglich. Trotzdem sollte man sich auch bei Instrumentalmelodien an der „Sanglichkeit“ orientieren.

5 Bei der Rückalteration (Dealteration) wird ein alterierter Akkordton bei der Auflösung mit einem chromatischen Schritt zu seiner unalterierten (akkordeigenen) Form geführt.

Bsp. 5.2.-6a: Die tiefalterierte Quinte der Doppeldominante wird entgegen der Streberichtung nicht zum Dominantgrundton, sondern zur D9 geführt (außergewöhnliche Stimmführung). Dieser Ton ist die unalterierte Quinte der Doppeldominante. Dieses Verfahren wird auch Gleittonverführung genannt.

Bsp. 5.2.-6b: In ähnlicher Weise wird mit der kleinen None der Doppeldominante verfahren: sie wird entgegen der Strebetendenz nicht zur D5, sondern zur Dominantsexte geführt (außergewöhnliche Stimmführung). Es handelt sich nicht um eine Rückalteration, denn die kleine 2.D9 ist kein alterierter Akkordton und ebenso wie der erreichte Ton Bestandteil einer der Grundformen der Doppeldominante (kleine bzw. große None). In der Stimmführung erfolgt lediglich ein chromatischer Schritt (übermäßige Prime), d.h. der Ton der kleinen D9 wird bei der Weiterführung alteriert.

Bsp. 5.2.-6: (a) Rückalteration der tiefalterierten Doppeldominant-Quinte
(b) Alteration der kleinen Doppeldominant-None

(a) Rückalteration der tiefalterierten Doppeldominant-Quinte (b) Alteration der kleinen Doppeldominant-None


5.3. Bewegungsarten

1 Zwei Stimmen können im Verhältnis zueinander drei Bewegungsarten ausführen: Gegenbewegung, gerade Bewegung (Geradbewegung) und Seitenbewegung.

2 In einem Tonsatz sollten immer möglichst viele verschiedene Bewegungsarten gleichzeitig auftreten, was bei regelrechter Verbindung der Akkorde ohnehin in den meisten Fällen geschieht.

3 Beim Ausführen des Tonsatzes ist ständig jede Stimme mit jeder anderen in Bezug auf die Bewegungsart zu vergleichen.

4 Die genaueste Beachtung all dieser Stimmführungsregeln führt zu einem strengen Satz, der allerdings zuweilen sperrig und mechanisch wirkt. Es ist jedoch ratsam, zunächst streng zu setzen und die engen Grenzen zu akzeptieren, um dann nach und nach ganz bewusst davon abzuweichen, etwa um besondere tonmalerische Wirkungen zu erzielen.

5 Verstöße gegen Tonsatzregeln heißen Satzfehler. Viele Tonsatzregeln (vor allem Stimmführungsregeln) wurden mit der Zeit gelockert. Die zulässigen Ausnahmen wurden als Lizenz bezeichnet.

5.3.1. Gegenbewegung

Bei Gegenbewegung (motus contrarius) werden zwei Stimmen in entgegengesetzter Richtung geführt.

Bsp. 5.3.1.-1: Gegenbewegung

Gegenbewegung


Gegenbewegung ist immer anzustreben, vor allem zwischen den Außenstimmen. Bei Gegenbewegung können keine „Satzfehler“ auftreten. Den Fall, dass die aufeinander folgenden Intervalle gleiche vollkommene Konsonanzen sind, nennt man Antiparallelen, die aber heute nicht mehr als fehlerhaft gelten und sich auch kaum vermeiden lassen.
Der Begriff „Antiparallelen“ ist paradox, da es sich nicht um Parallel- sondern um Gegenbewegung handelt.

Bsp. 5.3.1.-2: Antiparallelen

Antiparallelen


5.3.2. Geradbewegung

Bei Geradbewegung (motus rectus) werden zwei Stimmen in die gleiche Richtung (aufwärts oder abwärts) geführt.

Bsp. 5.3.2.-1: Geradbewegung

Geradbewegung


Geradbewegung ist unbedenklich, sofern das erreichte Intervall keine vollkommene Konsonanz ist.

Erreicht die Geradbewegung eine vollkommene Konsonanz ergibt sich eine verdeckte Parallele (Bsp. 5.3.2.-2). Sie gilt als unbedenklich, wenn wenigstens eine der Mittelstimmen beteiligt ist, besonders dann, wenn eine der beiden Stimmen sich stufenweise bewegt (z.B. bei Hornquinten; Bsp. 5.3.2.-3). Verdeckte Oktaven zwischen den Außenstimmen sind zu vermeiden, wenn beide Stimmen springen. Sie sind dagegen unbedenklich, wenn die Oberstimme schreitet.

Bsp. 5.3.2.-2: (a) verdeckte Quinte – (b) verdeckte Oktave – (c) verdeckte Prime

(a) verdeckte Quinte – (b) verdeckte Oktave – (c) verdeckte Prime


Bsp. 5.3.2.-3: Hornquinten

Hornquinten


Vermieden sollte werden: Geradbewegung in die Oktave aus Septime (Bsp. 5.3.2.-4a1) und None (Bsp. 5.3.2.-4a2), sowie aus der Sekunde in die Prime (Bsp. 5.3.2.-4b).

Bsp. 5.3.2.-4: zu vermeidende verdeckte Oktaven und Primen

zu vermeidende verdeckte Oktaven und Primen


Der Begriff „verdeckte Parallele“ ist inkorrekt, da es sich nicht um Parallelbewegung sondern um Geradbewegung handelt. Daher sollte man den konkreten Fall besser „verdeckte Quinte, „verdeckte Oktave“ oder „verdeckte Prime“ benennen.

5.3.3. Parallelbewegung

Die Parallelbewegung ist ein Spezialfall der geraden Bewegung: das Intervall zwischen beiden Stimmen bleibt gleich (ohne Rücksicht auf klein, groß, rein, vermindert oder übermäßig)

Bsp. 5.3.3.-1: Parallelbewegung

Parallelbewegung


5.3.3.1. offenen Parallelen

Parallelbewegung zweier Stimmen im Abstand einer vollkommenen Konsonanz (außer reine Quarte) sind im strengen Satz nicht erlaubt und auch in den meisten Fällen klanglich von ungünstiger Wirkung. Diese Parallelen nennt man offene Parallelen.

Die Folge verminderte Quinte - reine Quinte sollte zwischen den Außenstimmen und zwei benachbarten Oberstimmen vermieden werden („Vermindert - rein, klingt auch ganz fein, nur zum Bass hin lass das sein.“), während die Folge reine Quinte - verminderte Quinte immer gestattet ist („Rein - vermindert, ungehindert.“).

Das strenge Verbot von offenen Parallelen ist im Laufe der Musikgeschichte zwiespältig gehandhabt worden. Die ||5 wird bis heute als der Satzfehler überhaupt angesehen. In vielen Epochen der Mehrstimmigkeit waren in parallelen Quinten geführte Stimmen der Regelfall (z.B. Organum in der mittelalterlichen Musik, Akkordrückungen in der Musik des 20. Jh.). Das Argument, dass zwei Stimmen in parallelen Quinten ihre Unabhängigkeit aufgeben, gilt nur, wenn diese Parallelführung fortdauert, aber nicht bei einmaligem Auftreten. Nur bei ||1 und ||8 ist dies tatsächlich der Fall, weshalb sie zu vermeiden sind.

Als Faustregel kann gelten: ungünstig klingen ||5, wenn die Bedeutung der beiden Töne innerhalb der Akkorde gleich bleibt (z.B. untere Stimme: Grundton - Grundton, obere Stimme: Quinte - Quinte). Ändert sich aber die Bedeutung der Töne (Gerüstquinte; z.B. untere Stimme: Grundton - Terz, obere Stimme: Quinte - Septime), ist die Parallele unauffällig (dieser Fall liegt auch bei der Folge reine - verminderte Quinte und umgekehrt vor), um so mehr, wenn Mittelstimmen beteiligt sind. Das kann nur der Fall sein, wenn einer der Akkorde oder beide dissonant sind.

Einige Sonderfälle von ||5 gelten als vertretbar und tragen besondere Namen:

Bei „Mozart-Quinten“ löst sich der Dv5> direkt in die T auf. D9– und D5> sind beides Gleittöne, die im Quintabstand stehen und regulär einen kleinen Sekundschritt abwärts machen. (Bsp. 5.3.3.1.-1a)

Bei „Scarlatti-Quinten“ schreitet eine Stimme vom T1 zur D5, eine andere von der T5 zur D9. (Bsp. 5.3.3.1.-1b)
Bei „Mozart-“ und „Scarlatti-Quinten“ handelt es sich also um Gerüstquinten.

Bach-Quinten“ entstehen beim Aufeinandertreffen harmoniefremder Töne (z.B. Durchgang und Vorausnahme) meist bei der Verbindung DT. (Bsp. 5.3.3.1.-1c)

Klavierquinten“ oder „Ohrenquinten“ sind keine ||5, die durch Stimmführung entstehen. Sie werden nur hörbar („Ohrenquinten“), wenn durch eine einheitliche Klangfarbe für alle Stimmen die Stimmführung unklar ist (z.B. bei der Darstellung eines Chorsatzes auf dem Klavier, daher „Klavierquinten“). (Bsp. 5.3.3.1.-1d)

Gemildert werden ||5, wenn beide beteiligten Stimmen springen. Im Zweifel muss der Einzelfall nach dem Höreindruck entschieden werden.

Bsp. 5.3.3.1-1: (a) Mozart-Quinten - (b) Scarlatti-Quinten
(c) Bach-Quinten - (d) Klavier-Quinten

(a) Mozart-Quinten - (b) Scarlatti-Quinten (c) Bach-Quinten - (d) Klavier-Quinten


Nach sehr alten Regeln galt auch das stufenweise Parallelführen großer Terzen (wegen des dabei auftretenden Tritonus) als bedenklich.

Daneben unterscheidet man zwei weitere Fälle von Parallelen:

5.3.3.2. Akzentparallelen

Andere Bezeichnung: Schwerpunktparallelen

Akzentparallelen entstehen, wenn die Töne zweier Stimmen, die auf gleichwertiger (meist betonter) Zählzeit erscheinen, gleiche vollkommene Konsonanzen in Parallelbewegung bilden, unabhängig davon wie viele andere Intervalle dazwischen auftreten.

Bsp. 5.3.3.2.-1: Akzentparallelen

Akzentparallelen


Akzentparallelen gelten als nicht empfehlenswert, in Mittelstimmen aber als unbedenklich.

Ein besonderer Fall der Akzentparallelen sind verschobene Parallelen. Sie entstehen, wenn zwischen zwei Stimmen in Geradbewegung jeweils auf betonten oder unbetonten Taktzeiten gleiche vollkommene Konsonanzen (Quinten oder Oktaven) erscheinen. Unbetonte verschobene Quinten sind gestattet (Bsp. 5.3.3.2.-2a1), betonte verschobene Quinten und jegliche verschobenen Oktaven dagegen nicht.

Bsp. 5.3.3.2.-2: verschobene Parallelen
(a) Quinten: (a1) unbetont, (a2) betont
(b) Oktaven: (b1) unbetont, (b2) betont

verschobene Parallelen (a) Quinten: (a1) unbetont, (a2) betont (b) Oktaven: (b1) unbetont, (b2) betont


5.3.3.3. nachschlagende Parallelen

Bei nachschlagenden Parallelen tritt die zweite gleiche vollkommene Konsonanz in einer Stimme verzögert und damit erst auf unbetonter Zählzeit ein.

Bsp. 5.3.3.3.-1: nachschlagende Parallelen

nachschlagende Parallelen


Nachschlagende Parallelen gelten als unbedenklich, außer als nachschlagende Oktavparallelen zwischen den Außenstimmen.

Das Parallelenverbot gilt für die am Satz wesentlichen Stimmen im strengen Satz (reale Stimmen), nicht aber im freien Satz, dessen Stimmenzahl schwankt und an dem zusätzlich zu den realen Stimmen weitere Stimmen beteiligt sind, die zur Klangverstärkung oder Klangveränderung dienen.

Z.B. Oktavverdopplung der Cello-Stimme durch Kontrabass im Orchestersatz; Orgel-Registrierung mit einer 22/3’-Aliquotstimme (die eine Doudezime höher klingt, also eigentlich permanente Quintparallelen hervorruft, allerdings nur den 3. Partialton verstärken soll). Nach dem Weglassen all solcher Zusatzstimmen muss ein regelrechter (parallelenfreier) Satz übrig bleiben.

5.3.4. Seitenbewegung

Bei Seitenbewegung (motus obliquus) verändert eine Stimme die Tonhöhe, während die andere die ihre beibehält.

Bsp. 5.3.4.-1: Seitenbewegung

Seitenbewegung


Seitenbewegung ist immer unbedenklich.

 

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