6.4. Sequenz

Andere Bezeichnungen: Gang, Harmoniegang, Staffel (in der Sinfonik des 19. Jh.), Progression, harmonische Reihe

1 Eine Sequenz (lat. sequi = folgen) besteht aus einem Sequenzmodell (auch kurz Modell), dem anschließend mehrere Sequenzierungen folgen, indem das Modell auf anderen Stufen wiederholt (sequenziert) wird.

Das Modell und die folgenden Sequenzierungen sind (Sequenz-)Glieder der Sequenz. Eine n-gliedrige Sequenz besteht also aus dem Modell und n – 1 Sequenzierungen. Im Unterschied zu „Sequenzmodell“ bezieht „Sequenzierungsmodell“ das Sequenzierungsintervall mit ein.

Zu unterscheiden sind melodische und harmonische Sequenzen. Bei melodischen Sequenzen ist das Modell ein Motiv, Motivteil, Satz oder anderes melodisches Gebilde.

Bsp. 6.4.-1 melodische Sequenz

melodische Sequenz


Eine Sequenz ist meist sowohl melodischer als auch harmonischer Natur. Allerdings kann eine melodische Sequenz auch nicht im Sinne einer harmonischen Sequenz harmonisiert sein (Bsp. 6.4.-2a). Ebenso kann die Melodie zu einer harmonischen Sequenz selbst nicht sequenzierend sein (Bsp. 6.4.-2b).

Bsp. 6.4.-2: (a) melodische Sequenz harmonisch nicht sequenzierend
(b) harmonische Sequenz melodisch nicht sequenzierend

(a) melodische Sequenz harmonisch nicht sequenzierend (b) harmonische Sequenz melodisch nicht sequenzierend


Bei der variierenden Sequenz werden Merkmale des Modells (Akkordstellung, Melodiegestaltung etc.) verändert. Sequenzierungsmodell in Bsp. 6.4.-3 ist ein Quintfall (44). In der ersten Sequenzierung erscheint der erste Akkord mit Terzbass. Die Oberstimme ist bei den Sequenzierungen figuriert.

Bsp. 6.4.-3: variierende Sequenz

variierende Sequenz


Eine Sequenz im eigentlichen Sinne liegt vor, wenn das Modell mindestens zweimal sequenziert wird (also Modell, Sequenzierung, Sequenzierung, …). Ein nur einmaliges Sequenzieren (= zweigliedrige Sequenz) wird auch Halbsequenz oder (nach A. B. Marx) Versetzung genannt.
Üblich und verständlich sind zwei Sequenzierzungen (= dreigliedrige Sequenz). Mehr als drei Sequenzierungen wirken monoton und phantasielos. Solche Sequenzketten werden scherzhaft als „Organistenzwirn“, „Rosalien“ (nach dem Volkslied „Rosalia mia cara“, „Schusterflecke“ (im Sinne von Flickwerk), „Vettermichelei“ (nach dem Gassenhauer „Gestern Abend war Vetter Michel da“) oder (nach Robert Schumann) „usque ad nauseam“ („bis zum Erbrechen“) bezeichnet.
Ein häufiger Fall ist die abgebrochene Sequenz. Bei dieser erscheint die letzte Sequenzierung unvollständig.

2 Bei der harmonischen Sequenz ist das Modell eine Akkordfolge.

Die harmonische Sequenz wird auch Akkordsequenz genannt. Wenn alle Stimmen am Sequenzgeschehen beteiligt sind, spricht man auch von totaler Sequenz.

Je nach der Behandlung des Modells bei der Sequenzierung, wird unterschieden in:

Bsp. 6.4.-4: harmonische Sequenzen (a) tonal – (b) real – (c) gemischt

harmonische Sequenzen (a) tonal – (b) real – (c) gemischt


Im Folgenden ist mit Sequenz immer die harmonische Sequenz gemeint. In den Beispielen wird das Modell mit einer durchgezogenen und die Sequenzierungen mit gestrichelten Klammern gekennzeichnet.

3 Grundstruktur aller Modelle ist die Folge zweier Akkorde.

Das Modell ist häufig einer der üblichen kadenzierenden Wendungen (Schlüsse):

    D – T (authentischer Ganzschluss, Quintfall; auch als T – S oder dgl.)

    S – T (plagaler Ganzschluss, Quintanstieg; auch als T – D oder dgl.)

    D – VI (Trugschluss, Sekundanstieg; auch als S – D oder dgl.)

oder eine andere gebräuchliche Wendung:

    T – Tp, T – Tg, t – tP, t – tG (Wendung zum Parallel- oder Gegenklang, Terzfall bzw. -anstieg)

4 Sequenzmodelle können wie Kadenzmodelle durch Einfügen von Akkorde erweitert werden. Andererseits lassen sich drei- und mehrgliedrige Sequenzmodelle zurückführen auf zweigliedrige Grundmodelle.

5 Beim Anschluss der Sequenzierung an das Modell und der Sequenzierungen untereinander sind sowohl das Sequenzierungsintervall und als auch das Anschlussintervall von Bedeutung.

Sequenzierungsintervall ist das Intervall zwischen den Grundtönen des ersten Akkordes des Modells und des ersten Akkordes der folgenden Sequenzierung. Meist ist das Sequenzierungsintervall eine Sekunde auf- oder abwärts, aber auch Terzen und Quarten kommen vor. Außerdem muss das Sequenzierungsintervall nicht für die gesamte Sequenz gleich bleiben, was aber meist der Fall ist.

Anschlussintervall ist das Intervall zwischen dem Grundton des letzten Akkordes des Modells und des ersten Akkordes der folgenden Sequenzierung. Das Anschlussintervall kann dem Sequenzierungsintervall entsprechen. In diesem Fall liegt eine selbstähnliche Sequenz vor.

Bsp. 6.4.-5: (a) Sequenzierungs- und (b) Anschlussintervall

(a) Sequenzierungs- und (b) Anschlussintervall


6 Bei geschachtelten Sequenzen wird eine Sequenz als Ganzes wiederum sequenziert.

In Bsp. 6.4.-6a besteht das Modell aus zwei Akkordpaaren und ist selbst als Sequenz gestaltet: fallende Quinte als Modellintervall und fallende Terz als Sequenzierungsintervall (46). Dieses Modell wird mit der fallenden Sekunde sequenziert. Auch geschachtelte Sequenzen lassen sich auf eine einfachere Form zurückführen. Bsp. 6.4.-6b reduziert das Modell aus vier Akkorden auf ein Grundmodell aus zwei Akkorden mit steigender Sekunde als Modellintervall, das mit der fallenden Sekunde sequenziert wird (27). Die beiden mittleren Akkorde werden als Erweiterung des Modells aufgefasst.

Bsp. 6.4.-6: geschachtelte Sequenz

geschachtelte Sequenz


6.4.1. tonale Sequenz

1 Für tonale Sequenzen gibt es sechs Grund(sequenz)modelle aus jeweils zwei Akkorden, die sich nach dem Intervall zwischen den beiden Grundtönen (Modellintervall) definieren:

Die Zahlen unter den sechs Grundmodellen in Bsp. 6.4.1.-1 geben das Modellintervall grundsätzlich aufwärts an (evtl. als Komplementärintervall). Dadurch ist die Systematisierung von Sequenzen einfacher. Sekunden und Terzen können groß und klein, Quinten rein oder vermindert sein, je nachdem welche Stufen der diatonischen Tonleiter beteiligt sind.

Bsp. 6.4.1.-1: Grundmodelle

Grundmodelle


2 Die zwei Akkorde der Grundmodelle erscheinen entweder betont-unbetont oder unbetont-betont. Danach entscheidet sich die funktionale Bedeutung der beiden Akkorde.

Weitgehend eindeutig sind Quintfall (T – S bzw. D – T; Bsp. 6.4.1.-1c) und Quintanstieg (T – D bzw. S – T; Bsp. 6.4.1.-1d), Terzbewegungen (Bsp. 6.4.1.-1b und e) sowie alle Folgen betont-unbetont.
Bei unbetont-betonten Sekundbewegungen sind mehrere Deutungen möglich:
Sekundanstieg: neben D – Tp auch S – D (Bsp. 6.4.1.-1a)
Sekundfall: neben D – S auch Sp – T oder Sg – D (Bsp. 6.4.1.-1f)

Der betonte Akkord wird überwiegend tonikal, der unbetonte dominantisch verstanden. Auch beide Akkorde können dominantisch interpretiert werden (im Sinne eines Wechsels von der Subdominante zur Dominante oder umgekehrt).

Bei der Aufstellung des Modells sind die Funktionen der Akkorde noch dem kadenziellen Geschehen unterworfen. Ebenso die Verbindung vom letzten Modellakkord zum ersten Akkord der ersten Sequenzierung. In diesem funktionalen Zusammenhang werden auch die folgenden Sequenzglieder gehört, obwohl die tatsächlichen Funktionen andere sind.

Bei der folgenden Darstellung der Sequenzierungsmodelle sind den ersten drei Akkorden Funktionen zugeordnet, die eine mögliche Deutung dieser Akkordfolge im kadenziellen Rahmen repräsentieren.

3 Durch die Aufhebung der kadenziellen Kräfte in der Sequenz spielt die (strenge) Stimmführung nur eine untergeordnete Rolle.

Verdoppelte Leittöne, unsangliche Intervalle oder unübliche Akkordstellungen werden akzeptiert, da das übergeordnete Prinzip der Sequenz (also das Beibehalten des Modells) maßgeblich ist.

4 Es gibt sechs diatonische Sequenzierungsintervalle:

Das Sequenzierungsintervall wird grundsätzlich aufwärts mit einer Intervallzahl angegeben (evtl. als Komplementärintervall), was die Systematik wesentlich erleichtert. Gerade Intervallzahlen sind als authentisch, ungerade als plagal anzusehen. Die beste authentische Wendung ist 4 (Quintfall), die beste plagale Wendung ist 5 (Quintanstieg).

Bsp. 6.4.1.-2: Sequenzierungsintervalle

Sequenzierungsintervalle


Sekunde auf- und abwärts sind die häufigsten Sequenzierungsintervalle.

5 Aus dem Modellintervall (M) und dem Sequenzierungsintervall (S) ergibt sich das Anschlussintervall (A).

Für S ≥ M gilt: A = (S – M) + 1; für S < M gilt: A = (S – M) + 8

Anschlussintervall

Sequenzierungsintervall

2

3

4

5

6

7

Modellintervall

2

1

2

3

4

5

6

3

7

1

2

3

4

5

4

6

7

1

2

3

4

5

5

6

7

1

2

3

6

4

5

6

7

1

2

7

3

4

5

6

7

1

 

6 Aus den sechs Grundmodellen und den sechs Sequenzierungsintervallen lassen sich 36 Sequenzierungsmodelle kombinieren. Jedes ist gekennzeichnet durch das Modellintervall und das Anschlussintervall.

Sequenzierungsmodelle werden in der Folge als eingeklammerte zweistellige Zahl angegeben. Die beiden Zahlen geben Modell- und Anschlussintervall an.

Modell

Sequenzierungsintervall

2

3

4

5

6

7

Modellintervall

2

21

22

23

24

25

26

3

37

31

32

33

34

35

4

46

47

41

42

43

44

5

55

56

57

51

52

53

6

64

65

66

67

61

62

7

73

74

75

76

77

71

gelb: Hauptsequenzierungsmodelle – blau: verschobene Sequenzierungsmodelle
rot: umgekehrte Sequenzierungsmodelle – orange: verschobene und umgekehrte Sequenzierungsmodelle
fett: selbstähnliche Sequenzierungsmodelle – kursiv: gedoppelte Sequenzierungsmodelle

Für die Sequenzierungsmodelle, die eine Quarte als Modell- und/oder Anschlussintervall enthalten, gilt: der Akkord vor der Quarte steht bevorzugt unbetont, im Sinne einer Dominante, die sich im Quintfall auflöst.

7 Zu jedem Sequenzierungsmodell gibt es eine Verschiebung und eine Umkehrung, sowie eines, das sowohl Umkehrung als auch Verschiebung darstellt (Verschiebung der Umkehrung).

Ein verschobenes Sequenzierungsmodell vertauscht Modellintervall und Anschlussintervall.

Das Sequenzierungsmodell (52) (Pachelbel-Sequenz) hat als Umkehrung das Sequenzierungsmodell (25) (verschobene Pachelbel-Sequenz).

Sequenzierungsmodelle, bei denen Modellintervall und Anschlussintervall gleich sind, lassen sich nicht verschieben.

Ein umgekehrtes Sequenzierungsmodell ändert die Richtung sowohl des Modellintervalls als auch des Anschlussintervalls.

Das Sequenzierungsmodell (52) (Pachelbel-Sequenz) hat als Umkehrung das Sequenzierungsmodell (47) (umgekehrte Pachelbel-Sequenz).

Ein verschobenes umgekehrtes Sequenzierungsmodell vertauscht Modellintervall und Anschlussintervall eines umgekehrten Sequenzierungsmodells.

8 Hauptsequenzierungsmodelle sind:

9 Einen Sonderfall bildet die Prime als Anschlussintervall: der erste Akkord der Sequenzierung ist identisch mit dem zweiten Akkord des Modells.

Bsp. 6.4.1.-3a zeigt das Modell 2 (Sekundanstieg) mit dem Sequenzierungsintervall 2 (Sekunde aufwärts). Das Anschlussintervall ist 1 (Prime), das Sequenzierungsmodell lautet: (21). In Bsp. 6.4.1.-3b ist das Modell auf drei Akkorde ausgedehnt. Da zwei Akkorde aufeinander folgende identisch sind ist das Modell nach wie vor vom Typ 2 (Sekundanstieg). Das Anschlussintervall wird aber zur Sekunde und das Sequenzierungsmodell mithin zu (22). Die Bezeichnung lautet gedoppelte Sekundanstiegsequenz.

Bsp. 6.4.1.-3: Prime als Anschlussintervall

Prime als Anschlussintervall


Die sechs gedoppelten Sequenzierungsmodelle sind:

Gedoppelte Sequenzierungsmodelle sind als Varianten der selbstähnlichen Sequenzierungsmodelle anzusehen und ebenso nicht verschiebbar.

10 Die Sequenzierungsmodelle lassen anhand bestimmter Eigenschaften systematisieren.

Die Zyklusdauer gibt an wie oft das Modell sequenziert werden muss, bis alle sieben Stufen erschienen sind. Es gibt Zyklusdauern von 3, 4 und 5.

Zyklusdauer

Anschlussintervall

1

2

3

4

5

6

7

Modellintervall

2

5

3

4

4

3

5

3

5

3

3

5

4

4

4

5

5

4

3

3

4

5

5

4

3

3

4

5

6

5

4

4

5

3

3

7

5

5

3

4

4

3

Die VII erscheint bevorzugt unbetont und möglichst spät in der Sequenz.

Die Iterationsdauer gibt an wie viele Akkorde eine Gruppe bilden, deren letzter mit dem ersten identisch ist. Es gibt Iterationsdauern von 2, 4, 6 und 8.

Iterationsdauer

Anschlussintervall

1

2

3

4

5

6

7

Modellintervall

2

2

8

6

4

6

4

3

2

6

8

4

6

4

4

2

4

4

8

6

6

5

2

6

6

8

4

4

6

2

4

6

4

8

6

7

2

4

6

4

6

8

 

11 Für alle Sequenzierungsmodelle gibt es Umstellungs-Varianten.

Bei Sextakkord-Varianten, die bei allen Sequenzierungsmodellen vorkommen, erscheinen die Akkorde des Modells abwechselnd grundstellig (Terzquintakkord) und mit Terzbass (Sextakkord).

Besteht zwischen beiden Akkorden ein Quintfall, kann der anstelle des Sextakkordes auch ein Quintsextakkord auftreten.

Es kann der Fall eintreten, dass beide Akkorde den gleichen Basston haben. Bei der 65-Variante handelt es sich dann um eine Folge von 65-Vorhalten.

Für alle Sequenzierungsmodelle, die eine fallende Quinte als Modell- und/oder Anschlussintervall enthalten, gibt es Septakkord-Varianten:

12 In einigen Sequenzen gruppieren sich das Modell und die erste, manchmal auch die zweite Sequenzierung oder auch nur der erste Akkord der ersten Sequenzierung zu einem übergeordneten Modell, das seinerseits sequenziert wird. Dieses neue Modell heißt Meta-Sequenzmodell und ist von Verlauf der daran beteiligten Stimmen geprägt.

Auch im Verlauf der Bass-Stimme ist dieses Phänomen zu beobachten. Es bilden sich neue Modelle aus drei oder vier Tönen, die sequenziert werden.

Es gibt drei verschiedene Dauern der Meta-Sequenzmodelle:
   3 (Modell + 1. Akkord der ersten Sequenzierung)
   4 (Modell + 1. Sequenzierung)
   6 (Modell + 1. und 2. Sequenzierung)

Ein Meta-Sequenzmodell kann nur in den Oberstimmen (MO) oder nur im Bass (MB) auftreten, aber auch in allen Stimmen (MOB). Darüber hinaus kann die Dauer des Oberstimmen- und des Bass-Meta-Sequenzmodells unterschiedlich sein.

13 In Moll wird der Akkordvorrat des natürlichen und/oder harmonischen Moll verwendet.

Eine Sequenz im natürlichen Moll hat die Tendenz sich zur parallelen Dur-Tonart zu wenden. Im harmonischen Moll wird nach Möglichkeit III (übermäßiger Dreiklang) vermieden.

 

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