1 Vorhalte können grundsätzlich vor allen Akkordtönen und in allen Stimmen auftreten, und zwar auch gleichzeitig in mehreren oder sogar allen Stimmen (Mehrfachvorhalte).
2 Vorhalte in zwei Stimmen heißen Zweifachvorhalt, in drei Stimmen Dreifachvorhalt, in allen vier Stimmen Vierfachvorhalt.
Im mehr als vierstimmigen Satz sind Fünf- bis Achtfachvorhalte denkbar.
3 Wird ein Akkordton sowohl von seinem oberen als auch von seinem unteren Nebenton vorenthalten, entsteht ein Doppelvorhalt.
Doppelvorhalte sind ein Spezialfall von Zweifachvorhalten.
4 Durch Zweifach- und Dreifachvorhalte kann die Funktion eines Akkordes verstärkt, getrübt oder sogar verändert werden.
Doppelvorhalt der Terz führt bei Auflösung zu einem Akkord mit 2x3.
2–/3-Vorhalt und 4</3-Vorhalt zugleich ist nicht möglich, da die 2– als Vorhalt in die 3– und die 4< in die 3+ aufgelöst wird.
Bsp. 9.2.9.1.-1: Doppelvorhalt der Terz
Doppelvorhalt des Grundtons:
Bsp. 9.2.9.1.-2: Doppelvorhalt des Grundtons
Bsp. 9.2.9.1.-3: Doppelvorhalt der Quinte
Die häufigsten Zweifachvorhalte bei Dur- und Moll-Dreiklängen betreffen Terz und Quinte.
Handelt es sich um die beiden oberen Vorhalte, ist der Vorhaltakkord ein Quartsextakkord (Vorhaltsquartsextakkord, –> 2.4.1.3.). Es handelt sich um Mischfunktionen, bei denen über dem Funktionsgrundton (immer im Bass!) der eine Quinte tiefer stehende Akkord in den Oberstimmen erklingt.
Von besonderer Bedeutung ist der Dominantvorhaltquartsextakkord (Kadenz-Quartsextakkord, kadenzierender Quartsextakkord). Über dem Dominantgrundton erklingt in den Oberstimmen die T. Er wird vornehmlich eingesetzt, wenn der drittletzte relativ betonte Melodieton in einer Kadenz der T angehört, also T1 (= D4) oder T3 (= D6) ist. Im Allgemeinen steht die der T vorausgehende D im authentischen Ganzschluss (relativ) unbetont. Der Dominantvorhaltquartsextakkord ermöglicht es, die D bereits (relativ) betont eintreten zu lassen.
Bsp. 9.2.9.2.-1: Zweifachvorhalte von Terz und Quinte: 6/5- und 4/3-Vorhalte
Bsp. 9.2.9.2.-2: Grundkadenz mit Vorhaltsquartsextakkorden bei allen Funktionen. Der Vh46 der S wird in Dur gemieden, da er beim Eintritt wie ein D7 mit Septbass wirkt. Der Vh46 der T im letzten Takt erklärt die Bezeichnung „Plagalquartsextakkord“: die beiden letzten Akkorde der Kadenz sind S (mit Quintbass) und T, also ein Plagalschluss.
Bsp. 9.2.9.2.-2: Kadenz mit 6/4-Vorhalten
Die Kombination oberer Vorhalt der Quinte mit unterem Vorhalt der Terz ist weit seltener anzutreffen.
Bsp. 9.2.9.2.-3: Zweifachvorhalte von Terz und Quinte: 6/5- und 2/3-Vorhalte
4/5- und 4/3-Vorhalte zugleich sind ungewöhnlich. Entgegen der Forderung, Vorhalte nicht zu verdoppeln, erscheint die 4 zweifach, nämlich als Vorhalt der 3 und der 5. Dies ist nicht der Fall, wenn es sich um zwei verschiedene Quarten handelt. Der Vorhaltakkord ist dann dis- bzw. koalteriert.
Bsp. 9.2.9.2.-4: Zweifachvorhalte von Terz und Quinte: 4/5- und 4/3-Vorhalte
2/3- und 4/5-Vorhalte zugleich kommen häufiger vor.
Bsp. 9.2.9.2.-5: Zweifachvorhalte von Terz und Quinte: 4/5- und 2/3-Vorhalte
Bei Zweifachvorhalten von Terz und Quinte kann nur der Grundton verdoppelt werden, da Vorhalte nicht verdoppelt werden. Dies wirkt sich günstig auf die Beständigkeit der Funktion des Akkordes aus, d.h. dass die Akkordtöne in den Oberstimmen als Vorhalte verstanden werden.
Zweifachvorhalte von Terz und Grundton sind Vierklänge. Außer den beiden Vorhaltstönen erscheinen Grundton und Quinte des Dreiklangs.
Obere Zweifachvorhalte von Terz und Grundton kommen recht häufig vor.
Bsp. 9.2.9.2.-6: Zweifachvorhalte von Terz und Grundton: 4/3- und 9/8-Vorhalte
Auch die Kombination des 4/3- und des 7/8-Vorhalts sind nicht selten anzutreffen.
Bsp. 9.2.9.2.-7: Zweifachvorhalte von Terz und Grundton: 4/3- und 7/8-Vorhalte
Unterer Vorhalt der Terz und oberer Vorhalt des Grundtons zugleich sind selten.
Bsp. 9.2.9.2.-8: Zweifachvorhalte von Terz und Grundton: 2/3- und 9/8-Vorhalte
Obere Zweifachvorhalte von Terz und Grundton kommen recht häufig vor.
Bsp. 9.2.9.2.-9: Zweifachvorhalte von Terz und Grundton: 2/3- und 7/8-Vorhalte
Zweifachvorhalte von Quinte und Grundton sind Vierklänge. Außer den beiden Vorhaltstönen erscheinen Grundton und Terz des Dreiklangs.
Bsp. 9.2.9.2.-10: Zweifachvorhalte von Quinte und Grundton
(a) 6/5- und 9/8-Vorhalte – (b) 6/5- und 7/8-Vorhalte
Bsp. 9.2.9.2.-11: Zweifachvorhalte von Quinte und Grundton
(a) 4/5- und 9/8-Vorhalte – (b) 4/5- und 7/8-Vorhalte
In (sub-)dominantischen Sextakkorden treten häufig Vorhalte von Sexte und Grundton auf, die meist vorbereitet werden:
die Vorhaltstöne beim subdominantischen Sextakkord sind T3 und T5 der dann vorausgehenden T
die Vorhaltstöne beim dominantischen Sextakkord sind S1 und S3 der vorausgehenden S, bzw. 2.D3 und 2.D5(>) der vorausgehenden 2.D.
Bsp. 9.2.9.2.-12: Zweifachvorhalte von Grundton und Sexte
in (sub-)dominantischen Sextakkorden
Der Sept-Vorhalt kann verdoppelt erscheinen und löst sich in einer Stimme in die 8 in der anderen in die 6 auf:
Bsp. 9.2.9.2.-13: Zweifach-Sept-Vorhalte von Grundton und Sexte
in (sub-)dominantischen Sextakkorden
Bsp. 9.2.9.2.-14: Grundkadenz mit Zweifachvorhalten sequenzartig in Terz- und Sextparallelen in den Oberstimmen: in Takt 1 und 3 am Anfang jeweils Vorhaltquartsextakkorde; der Dreifachvorhalt im letzten Takt produziert einen „weiblichen“ Schluss, wie er für die Harmonik der Wiener Klassik typisch ist.
Bsp. 9.2.9.2.-14: Kadenz mit Zweifachvorhalten und einem Dreifachvorhalt
Durch Dreifachvorhalte werden entweder drei oder bei einem Doppelvorhalt zwei akkordeigene Töne vorenthalten.
Solange der Funktionsgrundton Bestandteil des Vorhaltakkordes ist, bleibt die Funktion einigermaßen verständlich. Wenn er aber auch vorenthalten wird, bekommt der Vorhaltakkord oft eine eigene Funktion, meist dominantisch zum Auflösungsakkord.
1 Untere Vorhalte sind meist klein, obere dagegen sowohl klein als auch groß.
2 Prim- (z.B. 9/8- und 2/3-Vorhalt) und (enharmonische) Sekundkollisionen (z.B. 9–/8- und 2/3-Vorhalt oder 4</3- und 6–/5-Vorhalt) zweier Vorhalte werden vermieden
Im Folgenden werden nur Dreifachvorhalte berücksichtigt, bei denen untere Vorhalte klein sind und außerdem keine Prim- bzw. Sekundkollisionen vorkommen.
Bsp. 9.2.9.3.-1 zeigt Dreifachvorhalte ohne Doppelvorhalte bei Dreiklängen mit Funktionsgrundton im Bass.
In der zweiten Zeile sind die Funktionssymbole analog zum DT notiert: die drei Oberstimmen als eigenständige Funktion über dem Grundton einer anderen Funktion (Oberstimmenfunktion). Dies ist angeraten, solange die Oberstimmen tatsächlich eine verständliche Funktion darstellen. Das ist immer dann der Fall, wenn diese Funktion in den Oberstimmen vorher bereits erklingt und als vorbereiteter Vorhalt liegen bleibt.
In der dritten Zeile erfolgt die Notation mit Intervallzahlen. Dies entspricht der Generalbassbezifferung (erste Zeile).
Die vierte Zeile interpretiert den gesamten Vorhaltakkord (mit Einbeziehung des Basstons, nicht nur die drei Oberstimmen) als eigenständige Funktion. Dies kann zu zweifelhaften Ergebnissen führen: in Bsp. 9.2.9.3.-1b… wären erstarrte unechte Quart-Vorhalte im Bass zu notieren.
Bsp. 9.2.9.3.-1a1: diatonisch; Vorhaltakkord: kleiner Moll-Septakkord mit Quintbass; Oberstimmenfunktion: Sp
Bsp. 9.2.9.3.-1a2: diatonisch; Vorhaltakkord: kleiner verminderter Septakkord mit Quintbass; Oberstimmenfunktion: s6
Bsp. 9.2.9.3.-1a3: chromatisch; Vorhaltakkord: großer übermäßiger Septakkord mit Septbass; Oberstimmenfunktion: S6–
Bsp. 9.2.9.3.-1a4: chromatisch; Vorhaltakkord: großer Dur-Septakkord mit Septbass; Oberstimmenfunktion: N
Bsp. 9.2.9.3.-1b1: diatonisch; Vorhaltakkord: Dur-Dreiklang mit Quintbass und hinzugefügter übermäßiger Quarte; Oberstimmenfunktion: unvollständiger D9
Bsp. 9.2.9.3.-1b2: diatonisch; Vorhaltakkord: Moll-Dreiklang mit Quintbass und hinzugefügter übermäßiger Quarte; Oberstimmenfunktion: unvollständiger Dv
Bsp. 9.2.9.3.-1: Dreifachvorhalte ohne Doppelvorhalte bei Dreiklängen
(a…) Quart-, Sext- und Non-Vorhalt – (b…) Quart-, Sext- und Sept-Vorhalt
Dreifachvorhalte ohne Doppelvorhalte mit 2<- und 4<-Vorhalten bei Dreiklängen mit Funktionsgrundton im Bass.
2<-Vorhalte sind immer chromatisch, 4<-Vorhalte kommen auch diatonisch vor (z.B. bei S oder tG).
Bsp. 9.2.9.3.-2a1: diatonisch/chromatisch; Vorhaltakkord: kleiner Dur-Septakkord mit Septbass; Oberstimmenfunktion: D
Bsp. 9.2.9.3.-2a2: chromatisch; Vorhaltakkord: Moll-Dreiklang (enharmonisch) und hinzugefügter übermäßiger Quarte im Bass; Oberstimmenfunktion: Dg (enharmonisch)
Bsp. 9.2.9.3.-2b: diatonisch/chromatisch; Vorhaltakkord: verminderter Dreiklang mit hinzugefügter Quarte; Oberstimmenfunktion: D6
Bsp. 9.2.9.3.-2c1: chromatisch; Vorhaltakkord: verminderter Dreiklang mit hinzugefügter (großer) None; Oberstimmenfunktion: unvollständiger D7
Bsp. 9.2.9.3.-2c2: chromatisch; Vorhaltakkord: Doppelterz-Vierklang; Oberstimmenfunktion: Dp (enharmonisch)
Bsp. 9.2.9.3.-2d: chromatisch; Vorhaltakkord: großer verminderter Septakkord; Oberstimmenfunktion: D
Bsp. 9.2.9.3.-2: Dreifachvorhalte ohne Doppelvorhalte bei Dreiklängen
(a…) übermäßiger Quart-, Sext- und Non-Vorhalt – (b) übermäßiger Quart-, Sext- und Sept-Vorhalt
(c…) übermäßiger Sekund, Sext- und Sept-Vorhalt
(d) übermäßiger Sekund, übermäßiger Quart und Sept-Vorhalt
Von den zahlreichen Möglichkeiten der Dreifachvorhalte bei Vierklängen seien hier nur einige Beispiele ohne Doppelvorhalt bei D7 (Bsp. 9.2.9.3.-3a…) und S56, bzw. s56 (Bsp. 9.2.9.3.-3b…) angeführt.
Bsp. 9.2.9.3.-3a1: chromatisch; Vorhaltakkord: vermindert verminderter Septakkord; Funktionsgrundton im Bass
Bsp. 9.2.9.3.-3a2: diatonisch; Vorhaltakkord: kleiner Moll-Septakkord; Funktionsgrundton vorenthalten, Septbass; Oberstimmenfunktion: tG
Bsp. 9.2.9.3.-3b1: chromatisch; Vorhaltakkord: kleiner verminderter Septakkord (enharmonisch); Funktionsgrundton im Bass
Bsp. 9.2.9.3.-3b2: diatonisch; Vorhaltakkord: kleiner Moll-Septakkord; Funktionsgrundton vorenthalten, Sextbass
Bsp. 9.2.9.3.-3b3: chromatisch; Vorhaltakkord: vermindert verminderter Septakkord; Funktionsgrundton im Bass vorenthalten; der Vorhaltakkord ist der 2.Dv (enharmonisch)
Bsp. 9.2.9.3.-3: Dreifachvorhalte ohne Doppelvorhalt beim
(a…) Dominantseptakkord – (b…) Subdominantquintsextakkord
Durch Vierfachvorhalte werden vorenthalten
Da in allen vier Stimmen, also auch im Bass, Vorhalte erscheinen, gibt es keine Oberstimmenfunktion mehr. Prim- und enharmonische Sekundkollisionen zweier Vorhalte ist bei Vierklängen nicht zu umgehen.
Von den zahlreichen Möglichkeiten der Vierfachvorhalte bei Drei- und Vierklängen seien hier nur einige Beispiele angeführt.
Bsp. 9.2.9.4.-1a: Vierfachvorhalt der T; diatonisch; Vorhaltakkord: vermindert verminderter Septakkord; Doppelvorhalt der 3
Bsp. 9.2.9.4.-1b1: Vierfachvorhalt des D7; chromatisch; Vorhaltakkord: kleiner Moll-Septakkord (enharmonisch); disalteriert
Bsp. 9.2.9.4.-1b2: Vierfachvorhalt des D7; chromatisch; Vorhaltakkord: Moll-Dreiklang (enharmonisch); disalteriert
Bsp. 9.2.9.4.-1c: Vierfachvorhalt des s56; chromatisch; Vorhaltakkord: kleiner Dur-Septakkord (enharmonisch)
Bsp. 9.2.9.4.-1: Vierfachvorhalte bei Vierklängen
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