6. Akkordverbindungen

1 Grundsätzlich lassen sich jeder Akkord mit jedem anderen verbinden. Die Wirkung hängt vom Verwandtschaftsgrad der beiden Akkorde ab.

2 Ausgedehnte Akkordfolgen haben entweder kadenzierende (mindestens drei Akkorde) oder sequenzierende (mindestens vier Akkorde) Funktion.

3 Während in Kadenzen die funktionellen Kräfte für ein tonales Einordnung sorgen wirken bei Sequenzen in erster Linie Melodik und Klanglichkeit; die Funktionalität der Akkorde ist aufgehoben.

6.1. Prinzip

Bei der Verbindung zweier Akkord gelten als Regeln:

1 Gemeinsame Töne zweier aufeinander folgender Akkorde bleiben in der gleichen Stimme liegen (Ligatur). Dadurch entsteht ein harmonisches Band.

Bsp. 6.1.-1: harmonisches Band

harmonisches Band


Quintverwandte Dreiklänge haben einen gemeinsamen Ton, leitereigene terzverwandte Dreiklänge haben zwei gemeinsame Töne, die bei der Akkordverbindung liegen blieben können.

Nach den Regeln des Kontrapunkts darf der angebundene Ton nicht länger als der vorausgehende dauern. Andernfalls muss die Bindung unterbrochen werden und der Ton erneut beginnen. Diese Regel ist im (auch strengen) homophonen Satz nicht unbedingt einzuhalten.

Wenn der gemeinsame Ton wegen Verdopplung auch in einer anderen Stimme auftritt, braucht nur einer der beiden liegen gelassen zu werden (meist in einer Mittelstimme zugunsten einer Bewegung der Oberstimme).

Bsp. 6.1.-2: gemeinsamer Ton verdoppelt

gemeinsamer Ton verdoppelt


2 Töne, die nicht liegen bleiben können, werden in einem möglichst kleinen Intervall auf- oder abwärts in den nächstliegenden Ton des Folgeakkordes geführt („kürzester Weg“). Dabei ist darauf zu achten

Ist der kürzeste Weg wegen dieser Gründe nicht möglich, wird der in der Entfernung übernächste Ton als Ziel gewählt. Sollte auch dieser nicht angeraten sein, wird das Verfahren solange fortgesetzt bis ein passender Zielton gefunden ist.

In seltenen Fällen erscheinen alle möglichen Folgetöne unpassend; es wird dann das am wenigsten unsangliche gewählt.

3 Das kleinste Intervall ist die übermäßige bzw. verminderte Prime (also die chromatische Veränderung eines Tones = Alteration). Wenn die Alteration in einer anderen Stimme erfolgt, liegt ein Querstand (relatio non harmonica) vor. Für bestimmte harmonische Wendungen ist der Querstand charakteristisch (z.B. bei der Verbindung N - D).

Ein Querstand zwischen Phrasenende und Phrasenbeginn ist unbedenklich (vor allem, wenn dazwischen eine echte Pause steht). Ebenso, wenn die Alteration auch in der Stimme erfolgt, die im ersten Akkord den nicht alterierten Ton ausführt (Bsp. 6.1.-3c: „unechter“ Querstand, tritt fast nur bei Verbindungen entfernt terzverwandter Akkorde auf) oder der erreichte Akkord dissoniert (Bsp. 6.1.-3e).

Sprünge in einen querständigen Ton sind problematisch (Bsp. 6.1.-3a), Schritte (vor allem kleine Sekunde) hingegen sind es weniger (Bsp. 6.1.-3d).

Bsp. 6.1.-3: (a) reguläre Alteration (in der gleichen Stimme)
(b) Querstand (Alteration in einer anderen Stimme)
(c) (d) „unechte“ Querstände (Alteration in gleicher und einer anderen Stimme)
(e) Querstand bei Wechsel zu dissonierendem Akkord

(a) reguläre Alteration (in der gleichen Stimme) (b) Querstand (Alteration in einer anderen Stimme) (c) (d) „unechte“ Querstände (Alteration in gleicher und einer anderen Stimme) (e) Querstand bei Wechsel zu dissonierendem Akkord


4 Strebetöne sind entsprechend ihrer (melodischen) Tendenz weiter zu führen (Leittöne aufwärts, Gleittöne abwärts):

Bsp. 6.1.-4: Weiterführung der Strebetöne

Weiterführung der Strebetöne


Für Ober- und Unterstimme gelten diese Regeln nur bedingt.
Der Verlauf der Oberstimme (Sopran) ist (meist) melodisch ausgerichtet. Oft ist eine Melodie (als „cantus firmus“) Anlass und Ausgangspunkt eines Tonsatzes und daher unveränderlich.
Die Unterstimme (Bass) ist an das harmonische Geschehen gebunden und ebenfalls häufig vorher festgelegt (z.B. Generalbass).
Lediglich die Behandlung der Strebetöne gilt uneingeschränkt auch für die Außenstimmen.

5 Folgen zwei grundstellige sekundverwandte Akkorde aufeinander (Grundtöne stehen auf benachbarten Stufen), sind die Oberstimmen in Gegenbewegung zum Bass zu führen (z.B. bei der Folge S D oder T Sp)

Auch bei anderen Akkordverbindungen ist die Gegenbewegung der Oberstimmen zum Bass üblich (z.B. bei der Folge S6 -  D). Im Allgemeinen wirkt sich eine Gegenbewegung der Oberstimmen zum Bass, wenn dieser sich stufenweise bewegt (unabhängig davon, ob im Bass nur Grundtöne erklingen) günstig aus.

6 Folgen mehrere Sextakkorde auf benachbarten Stufen aufeinander, müssen sie im vierstimmigen Satz verschiedenartige Verdopplungen aufweisen.

Im Klaviersatz wird in diesem Fall auf Dreistimmigkeit reduziert: Zwei Oberstimmen werden in parallelen Quarten geführt. (Bsp. 6.1.-5)

Bsp. 6.1.-5: stufenweise geführte Sextakkorde im Klaviersatz

stufenweise geführte Sextakkorde im Klaviersatz


6.2. Schlussbildungen

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Akkordverbindungen herausgebildet, die eine besondere Signalwirkung für den Zuhörer besitzen. Insbesondere für das Ende von Formabschnitten (Satzschlüsse) haben sie Form bildende Kraft. Folgende Funktionspaare werden als Schlussbildungen oder Schlüsse bezeichnet. Je nach Zielakkord werden Ganzschluss, Halbschluss und Trugschluss unterschieden.

6.2.1. Ganzschluss

1 Abschließender Akkord im Ganzschluss ist die Tonika. Ihr voraus geht meist eine der beiden Dominanten, aber auch andere Funktionen kommen in Frage.

       X - T

Andere Bezeichnung für Ganzschluss: Vollschluss

2 Unterschieden werden authentischer und plagaler Ganzschluss.

authentischer Ganzschluss: die Folge Dominante-Tonika (D - T).

Bsp. 6.2.1.-1: Authentischer Ganzschluss
(a, b2, c2) vollkommen – (b1, c1) unvollkommen

Authentischer Ganzschluss (a, b2, c2) vollkommen – (b1, c1) unvollkommen


Authentische Ganzschlüsse lassen sich unterschieden in:

Vollkommener authentischer Ganzschluss: die abschließende Tonika erscheint in Oktavlage
Bsp. 6.2.1.-1a: der sich schrittweise nach oben auflösenden D3 steht der Quintsprung abwärts im Bass gegenüber; die Außenstimmen enden im T1; es kommt Gegen-, Seiten und Geradbewegung vor; insgesamt Musterbeispiel für Ausgewogenheit.
Bsp. 6.2.1.-1b2: Ideal ist, wenn der T1 im Sopran von der D3 aus erreicht wird. Geschieht dies von der D5 aus, kann die T5 nicht liegen bleiben, sondern springt zur T3. Um eine vollständige T zu erhalten, springt daher die D3 zur T5 (abspringender Leitton). Günstig ist dann auch der Quartsprung aufwärts im Bass.
Bsp. 6.2.1.-1c2: Wenn der T1 im Sopran von der D1 aus erreicht wird, entstehen Antiparallelen mit dem Bass. Würde nun auch D3 zu T1 aufgelöst, ergäbe sich darüber hinaus eine v||8 mit dem Sopran und eine unvollständige T. Daher springt auch hier der Leitton ab.

Unvollkommener authentischer Ganzschluss: die abschließende Tonika erscheint in Terz- oder Quintlage.
Bsp. 6.2.1.-1b1/c1: die Stimmen werden bei beiden unvollkommenen Ganzschlüssen regulär mit Quintfall im Bass geführt.

Wesentliche Merkmale des authentischen Ganzschlusses sind die Leittonspannung (D3 zur T1) und der Quintfall des D1 zum T1. Der Leitton lässt den T1 und der D1 im Bass lässt den T1 im Bass erwarten. Beide Erwartungen werden durch den Ganzschluss erfüllt.

plagaler Ganzschluss: die Folge Subdominante-Tonika (S - T)

Bsp. 6.2.1.-2: plagaler Ganzschluss
(a) vollkommen – (b, c) unvollkommen – (d) mit Subdominantquintsextakkord

plagaler Ganzschluss (a) vollkommen – (b, c) unvollkommen – (d) mit Subdominantquintsextakkord


Analog zum authentischen Ganzschluss können unterschieden werden:

Vollkommener plagaler Ganzschluss: die abschließende Tonika erscheint in Oktavlage
Bsp. 6.2.1.-2a: In der S ist der T1 als 5 bereits enthalten und lässt diesen lediglich harmonisch anders wirken. Dies tritt beim vollkommenen plagalen Ganzschluss besonders deutlich hervor.

Unvollkommener plagaler Ganzschluss: die abschließende Tonika erscheint in Terz- oder Quintlage.

Dem plagalen Ganzschluss fehlt die Leittonspannung. Typisch ist der Quintanstieg des Basses vom S1 zum T1.
Der plagale Ganzschluss wurde früher auch „Kirchenschluss“ genannt, weil bei der Verlängerung des Schlusstones eines Kirchenliedes (sofern es sich um den Grundton der Tonart handelte) dieser mit der S-T-Folge harmonisiert wurde („Amen“). Reimann bezeichnete den plagalen Ganzschluss als „Gegenquintschluss“.

6.2.2. Halbschluss

1 Abschließender Akkord eines Formteils mit Halbschluss ist die Dominante. Ihr voraus gehen häufig Subdominante oder Doppeldominante.

       X - D

Andere Bezeichnung für den Halbschluss: offene Kadenz

Unterschieden werden mitunter auch:

Vollkommener Halbschluss:             2.D - D

Es handelt sich dabei um einen authentischen Ganzschluss in der Dominant-Tonart. Dieses harmonische Geschehen wird Ausweichung genannt (Bsp. 6.2.2.-1a).
Als Halbschlussakkord kann auch der Dominantvorhaltquartsextakkord erscheinen. Diese Wendung ist im klassischen (Solo-)Konzert üblich zur Einleitung der Solokadenz (Bsp. 6.2.2.-1b).

Bsp. 6.2.2.-1: vollkommener Halbschluss

vollkommener Halbschluss


Unvollkommener Halbschluss:           S - D      oder      T - D

Der unvollkommene plagale Halbschluss bleibt „in der Tonart“, lediglich die Dominant-Spannung am Ende des Formteils drängt zur Fortsetzung.

Bsp. 6.2.2.-2: unvollkommener Halbschluss mit vorausgehender
(a) Subdominante – (b) Tonika

unvollkommener Halbschluss mit vorausgehender (a) Subdominante – (b) Tonika


Der Halbschluss markiert das Ende eines Teilsatzes (z.B. Vorder- oder Mittelsatz). Auf jeden Fall ist er als Abschluss eines ganzen Musikstückes nicht geeignet.

2 Eine aus der Modalität stammende Wendung ist der phrygische Schluss: der Dominante geht die Mollsubdominante voraus.

Im Phrygischen ist diese Wendung ein Ganzschluss VII-I, wobei die I mit Dur-3 erscheint. Im dur-moll-tonalen Kontext ist die Wirkung halbschlüssig, weshalb die Bezeichnung phrygischer Halbschluss treffender ist.
Typisch ist beim phrygischen Halbschluss die s mit Terzbass (Bsp. 6.2.2.-3a). Auch dies ist ein Überbleibsel des Phrygischen (dort macht der Bass den Schritt II-I, von der „phrygischen Sekunde“ zur Finalis).
Bsp. 6.2.2.-3b: die „phrygische“ Wirkung wird bei der grundstelligen s geschwächt; es handelt sich lediglich um einen unvollkommenen Halbschluss in Moll.
Bsp. 6.2.2.3-c: die s kann auch um die (leitereigene) kleine 7 erweitert sein; alle vier Stimmen erreichen den Schluss­ton dann schrittweise.

Bsp. 6.2.2.-3: phrygischer Schluss

phrygischer Schluss


3 Halbschlüssig wirkt auch ein unvollkommener authentischer Ganzschluss am Ende eines Formteils (z.B. Vordersatz). Diese Erscheinung wird formaler Halbschluss genannt.

6.2.3. Trugschluss

1 Beim Trugschluss folgt auf die Dominante nicht die Tonika, sondern in der Regel die Dreiklang auf der VI. Stufe (in Dur Tonikaparallele [Tp], in Moll Tonikagegenklang [tG]). Ganz allgemein liegt ein Trugschluss immer dann vor, wenn irgendein Akkord der Dominante folgt, nur nicht die Tonika.

Trugschluss im weitesten Sinn:       D - X (aber nicht T)

Andere Bezeichnungen für den Trugschluss: Kadenzflucht, Trugkadenz, Halbkadenz, Trugfortschreitung

Echter (oder klassischer) Trugschluss: der Leitton (meist im Sopran) wird regulär aufgelöst, während der Bass nicht den Quintfall zur T1 macht, sondern einen Schritt aufwärts zur 6 (V I). Dadurch entstehen die typischen Trugschlussfortschreitungen in Dur und Moll:

Dur-Trugschluss:            D - Tp

Moll-Trugschluss:           D - tG

Bsp. 6.2.3.-1: (a) Dur-Trugschluss – (b) Moll-Trugschluss

(a) Dur-Trugschluss – (b) Moll-Trugschluss


Bsp. 6.2.3.-1: Typisch für die Trugschlusswendung ist die 2x3 der T. Die Oberstimmen, außer derjenigen, die den Leitton hat, werden in Gegenbewegung zum Bass geführt, um ||5 und ||8 zu vermeiden.

Der Trugschluss dient meist dazu den Ganzschluss hinauszuzögern oder eine überraschende Wirkung zu erzielen.

Wird der Trugschluss der Varianttonart verwendet (in Dur der von Moll oder umgekehrt), spricht man von Variant-Trugschluss, vertauschtem Trugschluss oder entlehntem Trugschluss.

Ein unechter Trugschluss liegt vor, wenn die Dominant-Terz (Leitton) im Sopran nicht zur 1 aufwärts sondern zur 6 abwärts geführt wird.

Bsp. 6.2.3.-2: unechter Trugschluss

unechter Trugschluss


2 Untypische Trugfortschreitungen liegen vor, wenn

Bsp. 6.2.3.-3: Beispiele für untypische Trugfortschreitungen

Beispiele für untypische Trugfortschreitungen


6.3. Kadenz

1 Die wichtigste Verbindung von mehr als zwei Akkorden ist die Kadenz.

2 Die beiden einfachsten Formen verbinden die Tonika mit einer ihrer Dominanten:

Authentische Kadenz:   T     D    T     (Dur) oder t      D    t      (Moll)
Plagale Kadenz:   T     S     T     (Dur) oder t      s     t      (Moll)

Mit authentisch (spätlat. authenticus = zuverlässig, verbürgt, echt; aus gr. authenticós) werden die Kirchentonarten bezeichnet, deren Tonumfang sich von der Finalis (Grundton) bis zu deren Oktave erstreckt (dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch).

Unter plagal (mlat. plagalis zu gr. plágios = seitlich, hergeleitet) werden die Ableitungen der Kirchentonarten verstanden, deren Tonumfang eine Quarte unter (gr. hypo) der Finalis beginnt (hypodorisch, hypophrygisch, hypolydisch, hypomixolydisch).

Übertragen auf die dur-moll-tonale Harmonik, kennzeichnen die beiden Begriffe die Wirkung der Folge zweier Akkorde.
authentisch: stark, erstrangig, überzeugend
plagal: schwach, zweitrangig

6.3.1. Grundkadenz

1 Die Grundkadenz bezieht in Dur und Moll beide Dominanten ein und besteht aus der Abfolge.

Dur:           T     S     D    T

Moll:          t      s     D    t      (harmonisches Moll)

Andere Bezeichnungen für die Grundkadenz: einfache Kadenz, Hauptkadenz, authentische Doppelwendung

2 Die drei Hauptfunktionen haben ihre je eigene besondere Aufgabe:

3 In der Grundkadenz kommen alle sieben Töne der Tonart vor. Damit ist die Tonart eindeutig repräsentiert.

Bsp. 6.3.1.-1: Grundkadenz in Dur und Moll

Grundkadenz in Dur und Moll


Bsp. 6.3.1.-1: Die Bedeutung des Begriffs „Kadenz“ (lat. cadere = fallen) wird deutlich: die Grundtöne der an der Kadenz beteiligten Funktionen führen zwei Quintfälle aus (T - S und D - T).
Neben der Abfolge der Funktionen ist ihre metrische Stellung von Bedeutung: die der betonten Schluss-Tonika vorausgehende Dominante steht relativ unbetont. Subdominante und Tonika können betont wie auch unbetont auftreten.
Wenn die abschließende Tonika auf betonte Taktzeit fällt, wird dies als männlicher Schluss bezeichnet. Erscheint die abschließende Tonika hingegen auf unbetonte Taktzeit, liegt ein weiblicher Schluss vor.

Bsp. 6.3.1.-2: weiblicher Schluss mit
(a) dominantischem und (b) subdominantischem Vorhalt

weiblicher Schluss mit (a) dominantischem und (b) subdominantischem Vorhalt


Varianten der Grundkadenz:

Dur:

T     s      D     T  

(Molldur, vermolltes Dur, harmonisches Dur)

Moll:

t      S     D     T  

(melodisches Moll, Durmoll, verdurtes Moll)

t      s      D     T  

(harmonisches Moll mit verdurter Schlusstonika [pikardische Terz])

Varianten mit „Molldominante“ wirken modal, da die Leittonspannung der Dominante fehlt:

Dur:

T     S      d     T  

(modal, nichtfunktional, mixolydisch)

Moll:

 t      s      d     t  

(natürliches Moll, neomodal)

 t     S      d     t  

(modal, dorisch)

6.3.2. abweichende Kadenzmodelle

6.3.2.1. umgekehrte Kadenz

Die umgekehrte Kadenz (rückläufige Kadenz, harmonischer Rückschritt) vertauscht die Position von Subdominante und Dominante:

Dur:           T     D    S     T

Moll:          t      D    s     t

Varianten der umgekehrten Kadenz:

aeolisch:          t      d     s      t

6.3.2.2. modale Kadenzen

1 Modale Kadenzen erinnern an die Klauseln der klassischen Vokalpolyphonie.

2 Die Bezeichnungen beziehen sich zwar auf die vier Stimmen des Chorsatzes, konnten aber in allen Stimmen auftreten.

Kennzeichen der Klauseln:

Bsp. 6.3.2.2.-1: Klauseln (a) Diskant- und Tenorklausel – (b) Alt- und Bassklausel
(c) Parallelklausel – (d) Landinoklausel – (e) authentischer Ganzschluss aus Klauseln
(f) Oktavsprungklausel

Klauseln (a) Diskant- und Tenorklausel – (b) Alt- und Bassklausel (c) Parallelklausel – (d) Landinoklausel – (e) authentischer Ganzschluss aus Klauseln (f) Oktavsprungklausel


Die hier vorgestellten modalen Kadenzen sind nicht die in der klassischen Vokalpolyphonie üblichen. Es handelt sich vielmehr um Kadenzmodelle, die sich an den Klauselwendungen und dem Akkordvorrat der Kirchentonarten orientieren, und daher archaische Kadenzen genannt werden.

3 Entscheidend für die Gestaltung ist das Erreichen der Finalis (1) in der Oberstimme. Im günstigsten Fall geschieht dies schrittweise von oben oder unten (im Ganz- oder vorzugsweise Halbtonschritt). Terz-Sprünge sind möglich, ebenso das liegen bleiben des vorletzten Tones.

4 Der Schlusston (und der Akkord darunter) heißt Ultima, der vorletzte Ton Penultima und der drittletzte Ton Antepenultima.

Der Doppelschritt Antepenultima-Penultima-Ultima entspricht der Folge S D T in der funktionalen Harmonik.

5 Als Penultima kommen in Frage: VII, II, IV und V. Das sind die leitereigenen Dreiklänge, die 2, 7, 6 und/oder 1 enthalten. Ein Penultima-Akkord muss ein Dur- oder Moll-Dreiklang sein. Andernfalls ist er nur mit einer Alteration, die ihn dazu macht, verwendbar.

6 Modale Kadenzen lassen sich in authentische und plagale Wendungen einteilen.

Bei authentischen Wendungen hat die Penultima dominantische Funktion, bei plagalen hingegen subdominantische.

authentisch: V   I und VII   I
plagal: IV  I und II      I

Die authentischen Wendungen entsprechen der Grundkadenz, die plagalen der umgekehrten Kadenz.

Dorisch

Charakteristisch ist im Dorischen das Fehlen des subsemitonium (Leitton) und die hohe 6 („dorische Sexte“), entspricht ansonsten dem natürlichen Moll. Alle vier Penultima-Akkorde sind verwendbar.

Bsp. 6.3.2.2.-2: Kadenzmodelle im Dorischen

Kadenzmodelle im Dorischen


Die dorische Ultima ist ein Moll-Dreiklang. In der Praxis der klassischen Vokalpolyphonie wurde sie allerdings immer verdurt (pikardische Terz).

Phrygisch

Charakteristisch im Phrygischen sind der fehlende subsemitonium (Leitton) und die tiefe 2 („phrygische Sekunde“), entspricht ansonsten dem natürlichen Moll. Die V ist als Penultima nicht verwendbar (verminderter Dreiklang).

Bsp. 6.3.2.2.-3: Kadenzmodelle im Phrygischen

Kadenzmodelle im Phrygischen


Die phrygische Ultima ist ein Moll-Dreiklang. In der Praxis der klassischen Vokalpolyphonie wurde sie allerdings immer verdurt (pikardische Terz) und erscheint auch hier so.

Lydisch

Charakteristisch ist im Lydischen die hohe 4 („lydische Quarte“). Lydisch hat einen subsemitonium, entspricht ansonsten Dur. Diese beiden Töne zielen leittönig auf die Ultima, weshalb die Wendung VII I Doppelleittonklausel genannt wird. Die IV ist als Penultima nicht verwendbar (verminderter Dreiklang).

Bsp. 6.3.2.2.-4: Kadenzmodelle im Lydischen

Kadenzmodelle im Lydischen


In der Wendung II I hat die II subdominantische Funktion (SP), in der Wendung V I hingegen ist sie Dominante der V (2.D).

Mixolydisch

Charakteristisch im Mixolydischen ist die tiefe 7 („mixolydische Septime“) und damit der fehlende subsemitonium (Leitton). Es entspricht ansonsten Dur. Alle vier Penultima-Akkorde sind möglich.

Bsp. 6.3.2.2.-5: Kadenzmodelle im Mixolydischen

Kadenzmodelle im Mixolydischen


Durch Erhöhung der 7 wurde Mixolydisch schon sehr früh dem Ionischen (Dur) angeglichen.

Aeolisch

Aeolisch entspricht dem natürlichen Moll. Daher fehlt der subsemitonium (Leitton). Die II ist als Penultima nicht verwendbar (verminderter Dreiklang).

Bsp. 6.3.2.2.-6: Kadenzmodelle im Aeolischen (natürliches Moll)

Kadenzmodelle im Aeolischen (natürliches Moll)


Ionisch

Ionisch entspricht Dur. Alle vier Penultima-Akkorde sind möglich.

Bsp. 6.3.2.2.-7: Kadenzmodelle im Ionischen (Dur)

Kadenzmodelle im Ionischen (Dur)


6.3.2.3. Flamenco-Kadenz

Die Flamenco-Kadenz ist eine phrygische Kadenz (IV I6 VII I+). Typisch ist der abwärts schreitende Bass.

Andere Bezeichnung für die Flamenco-Kadenz: Andalusische Kadenz

Bsp. 6.3.2.3.-1: Flamenco-Kadenz

Flamenco-Kadenz


Als modales Kadenzmodell ist die Deutung des zweiten Akkordes als „Molldominante“ mit Terzbass problematisch.
Im Generalbasszeitalter sehr beliebt als Bassmodell (Ground) für Chaconnen.

6.3.3. erweiterte Kadenz

1 Die Grundkadenz kann erweitert werden, indem die Dominanten verändert werden, durch:

und/oder:

Mit akkordfremden Tönen schließlich kann einerseits die melodische Qualität gesteigert, andererseits die Verbindung der Akkorde untereinander erhöht werden.

 

2 Die Doppelkadenz verknüpft eine Trugschlusskadenz (S D Tp) mit einer Vollkadenz (S D T):

      T       S       D       Tp     S       D       T

 

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