10. Zwischenfunktionen

1 Jeder Dur- oder Moll-Dreiklang funktioniert regelmäßig als Tonika in der Tonart, in der er auf der 1 steht, also I ist.

Unabhängig von seiner aktuellen Funktion kann aber jeder Dur- und Moll-Dreiklang, der nicht Tonika ist, zeitweilig zu einem tonalen Zentrum, zu einer Zwischentonika, werden. Dazu ist es notwendig, dass in unmittelbarer zeitlicher Nähe des betreffenden Klangs, also vorher und/oder nachher, Klänge auftreten, die ihn in dieser Eigenschaft verstärken. Diese Klänge heißen Zwischenfunktionen.

Zwischenfunktionen werden in runde Klammern gesetzt. In Klammern stehende Funktionen beziehen sich auf den nachfolgenden Klang, der als Zwischentonika betrachtet wird. (Bsp. 10.-1(a))
z.B.: (D) Tp

Beziehen sich Zwischenfunktionen nicht auf den nachfolgenden sondern auf den vorausgehenden Klang, wird dies mit einem nach links auf diesen weisenden Pfeil an der öffnenden Klammer verdeutlicht. (Bsp. 10.-1(c))
z.B.: Tp ←(D)

2 Im einfachsten Fall erfolgt die Bestätigung einer Zwischentonika nur durch einen, und zwar den oberen quintverwandten Klang der Zwischentonika. Es handelt sich dabei um die Dominante der Zwischentonika, die Zwischendominante genannt wird. Sie geht der Zwischentonika meist voraus, kann aber auch nachfolgen. In diesem Fall handelt es sich um eine rückbezügliche Zwischendominante.

Die Bezeichnung „Klammerdominante“ für Zwischendominante ist von der Klammerschreibweise der Funktionstheorie abgeleitet. Die wichtigste Zwischendominante ist die der Dominante, die wegen ihres häufigen Auftretens eine besondere Bezeichnung (Doppeldominante) und ein eigenes Funktionssymbol erhält. Die Bezeichnung „Wechseldominante“ spielt auf den Wechsel in die Dominanttonart an.

Zwischensubdominanten allein sind weit seltener anzutreffen.

Zwischendominanten und Zwischensubdominanten können in allen Formen erscheinen, in denen die eigentlichen Dominanten auftreten. Meist werden sie durch die typischen Merkmale der Dominanten (charakteristische Dissonanzen, Erweiterungen, Alterationen) als solche ausgewiesen und in ihrer Funktion verstärkt.

Jede authentische Ganzschlusswendung, die nicht auf der Tonika endet, ist zwischendominantisch (Bsp. 10.-1(b)).

Zwischendominanten können, müssen aber nicht zwangsläufig, leiterfremde Töne enthalten. Einige leitereigene Dur-Dreiklänge funktionieren bereits als Zwischendominante zu einer anderen Funktion (Bsp. 10.-1(b)). Zwischendominanten entstehen aber vor allem durch Alteration eines Moll-Dreiklangs oder verminderten Dreiklangs zu einem Dur-Dreiklang (Verduren, Bsp. 10.-1(a)). Dieser Vorgang wird Dominantisieren genannt. (→ 12.1.1.)

Bsp. 10.-1: Zwischendominante und rückbezügliche Zwischendominante

Zwischendominante und rückbezügliche Zwischendominante


In Bsp. 10.-1 ist der Septakkord bei (a) Zwischendominante zur nachfolgenden Tp. Der A-Dur-Dreiklang bei (c) ist rückbezügliche Dominante zur vorausgehenden Sp. Der C-Dur-Dreiklang mit Terzbass bei (b) ist natürlich T, kann aber auch als Zwischendominante zur nachfolgenden S angesehen werden. Der kadenzielle Ablauf in diesem Beispiel ist halbschlüssig, allerdings bezogen auf die Sp, und wirkt daher archaisch-modal.

Zwischensubdominanten wirken überzeugender, wenn sie Moll-Dreiklänge sind (Zwischenmollsubdominante).

Zwischensubdominanten können, müssen aber nicht zwangsläufig, leiterfremde Töne enthalten. Einige leitereigene Dur- und Moll-Dreiklänge funktionieren bereits als Zwischensubdominanten zu einer anderen Funktion (Bsp. 10.-2(a)). Zwischenmollsubdominanten entstehen aber auch durch Alteration eines Dur-Dreiklangs oder verminderten Dreiklangs zu einem Moll-Dreiklang (Vermollen, Bsp. 10.-2(b)). Dieser Vorgang wird Subdominantisieren genannt. (→ 12.1.1.)

Bsp. 10.-2: Zwischensubdominante und rückbezügliche Zwischensubdominante

Zwischensubdominante und rückbezügliche Zwischensubdominante


In Bsp. 10.-2 kann der Klang bei (a) als Zwischensubdominante der nachfolgenden Tp gedeutet werden. Nach der T wird zunächst D7 mit trugschlüssiger Auflösung gehört. Der Vierklang bei (b) ist rückbezüglich als Mollsubdominante mit sixte ajoutée der vorausgehenden S deutbar. Die Zwischensubdominante der Subdominante wird Doppelsubdominante genannt. In Analogie zur Doppeldominante hat sie ein eigenes Funktionssymbol, obgleich sie bei weitem nicht so häufig vorkommt.

3 Es ist möglich, dass ein Klang als Zwischenfunktion zu deuten ist, obwohl die zugehörige Zwischentonika gar nicht in Erscheinung tritt. Dieses Phänomen einer „verschwiegenen Zwischentonika“ wird Ellipse genannt.

Die nicht auftretende Zwischentonika wird im System der Funktionsbezeichnungen in eckige Klammern – meist hochgestellt – rechts neben der schließenden Klammer der Zwischenfunktion(en) geschrieben.
z.B.: (D)[Tp]

Bsp. 10.-3: Ellipsen

Ellipsen


In Bsp. 10.-3 werden zwei Zwischendominanten trugschlüssig aufgelöst: bei (a) folgt statt der Tp die S (die in a-Moll als tG funktioniert und bei (b) statt der Sp die Doppelsubdominante (in d-Moll ebenfalls tG).

4 Treten neben der Zwischendominante noch weitere Zwischenfunktionen hinzu, bildet sich eine Zwischenkadenz, meist in der Abfolge Zwischensubdominante-Zwischendominante.

Kommt innerhalb der Zwischenkadenz die Zwischentonika vor, wird sie als Tonika notiert, z.B.
(D t s D) Tp. Das t innerhalb der Klammer ist derselbe Klang wie die Tp, auf die sich die Zwischenkadenz bezieht.

In vielen Fällen ist eine Zwischenkadenz als Ausweichung, also als kurzzeitiges Verlassen der Haupttonart, zu interpretieren.

Bsp. 10.-4: Zwischenkadenz

Zwischenkadenz


Bsp. 10.-4: Die beiden Akkorde in T.2 erweisen sich als Zwischenkadenz zur nachfolgenden Tp.

Innerhalb einer Zwischenkadenz können wiederum Zwischenfunktionen enthalten sein, die sich auf ein Klang innerhalb der Zwischenkadenz beziehen (verschachtelte Zwischenkadenz).

Um diese Erscheinung zu notieren bedient man sich geschweifter Klammern, die die äußere Zwischenkadenz umschließen. (Bsp. 10.-5)
z.B.: {S (D) Sp D} Tp

Bsp. 10.-5: verschachtelte Zwischenkadenz

verschachtelte Zwischenkadenz


Bsp. 10.-5: Bei der innerhalb der geschweiften Klammer stehenden t handelt es sich um die Sp, auf die als Zwischentonika sich die Zwischenkadenz bezieht. Die Funktionsdarstellung in der zweiten Zeile verzichtet auf die geschweifte Klammer. Zunächst entspricht das der Hörerfahrung: Der T folgt die Zwischendominante zur S, dieser diejenige der Sp. Der folgende Septakkord (bei (a)) wird dann analog zwischendominantisch zur D (also als Doppeldominante) gehört. Er löst sich allerdings in den Moll-Dreiklang auf der 5. Diesen als „Molldominante mit Terzbass“ zu erklären ist zweifelhaft. Vielmehr funktioniert er als s in d-Moll (der Tonart der Sp). Es ist also sinnvoll den gesamten Abschnitt vom zweiten bis zum vierten Takt (Klammer über der Akkolade) als verschachtelte Zwischenkadenz (mit geschweiften Klammern) zu kennzeichnen.

5 Zwischenfunktionen (die meist tonleiterfremde Töne enthalten) ermöglichen

6 Um aus der Tonart auszuweichen, werden häufig leitereigene Dreiklänge zu Dominanten oder Subdominanten anderer Tonarten umfunktioniert, also zu Zwischen(sub)dominanten. Dies geschieht durch Verduren von Moll- und verminderten Dreiklängen (Dominantisieren) oder Vermollen von Dur- oder verminderten Dreiklängen (Subdominantisieren). Die Ausweichung geschieht in die Tonart, in der die so entstandene Zwischenfunktion leitereigen ist.

Dominantisieren in Dur:

Die leitereigene Dur-Dreiklänge in Dur funktionieren bereits als Zwischendominanten, wenn die betreffende Zwischentonika folgt:

Durch Verduren (Hochalteration der Terz) werden die Dreiklänge auf den drei Nebenstufen 2, 3 und 6 zu Zwischendominanten:

Um die VII zu dominantisieren müssen Terz und Quinte hochalteriert werden:

Das bedeutet, dass von C-Dur aus durch Dominantisieren in die Tonarten F-Dur, G-Dur, a-Moll, B-Dur, d-Moll und e-Moll ausgewichen werden kann.

Subdominantisieren in Dur:

Die leitereigenen Moll-Dreiklänge in Dur (also die Nebenfunktionen) funktionieren im entsprechenden harmonischen Kontext bereits als Zwischensubdominanten:

Durch Vermollen (Tiefalteration der Terz) werden T und D zu Zwischensubdominanten:

Um die VII zu subdominantisieren muss die Quinte hochalteriert werden:

Das bedeutet, dass von C-Dur aus durch Subdominantisieren in die Tonarten G-Dur, a-Moll, h-Moll, d-Moll, e-Moll und fis-Moll ausgewichen werden kann.

Bsp. 10.-6: Dominantisieren (a…) und Subdominantisieren (b…) in Dur

Dominantisieren (ax) und Subdominantisieren (bx) in Dur


Um in Moll aus dem leitereigen Dreiklängen Zwischen(sub)dominanten zu gewinnen, wird auf das natürliche Moll zurückgegriffen.

Dominantisieren in Moll:

Die leitereigenen Dur-Dreiklänge des natürlichen Moll können bei entsprechendem harmonischen Kontext bereits als Zwischendominanten funktionieren:

Durch Verduren der t wird diese zur Zwischendominante der s (Bsp. 10.-7a1).
Wird die s verdurt, wird sie eher Zwischendominante der 2.S (oder 2.D der tP) denn S („dorische Subdominante“) sein (Bsp. 10.-7a4).
Erst durch Verduren wird V zur eigentlichen Dominante (Bsp. 10.-7a5).

Um die II zu Dominantisieren müssen Terz und Quinte hochalteriert werden:

Das bedeutet, dass von C-Moll aus durch Dominantisieren in die Tonarten f-Moll, G-Dur, As-Dur, B-Dur, Des-Dur und Es-Dur ausgewichen werden kann.

Subdominantisieren in Moll:

Die Molldreiklänge I und V des natürlichen Moll können bereits als Zwischensubdominanten funktionieren:

Durch Vermollen der leitereigenen Dur-Dreiklänge ergeben sich Zwischensubdominanten:

Die leitereigene II ist ein verminderter Dreiklang, der vermollt werden kann, indem die Quinte hochalteriert wird (Bsp. 10.-7b2). Dieser Moll-Dreiklang ist in Moll untypisch und eigentlich in Dur Sp. Auch als Zwischensubdominante zur Tp ist er eigentlich in Dur anzusiedeln.

Das bedeutet, dass von C-Moll aus durch Subdominantisieren in die Tonarten G-Dur, a-Moll, B-Dur, d-Moll, Es-Dur und f-Moll ausgewichen werden kann.

Bsp. 10.-7: Dominantisieren (a…) und Subdominantisieren (b…) in Moll

Dominantisieren (ax) und Subdominantisieren (bx) in Moll


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